Nomadentochter
Krankenhaus in Gelkayo zu bringen. Wir haben noch nichts gehört, hoffen aber, dass er überm Berg ist.«
Plötzlich stiegen Sorge und Angst in mir auf. Eine Operation mitten in der Wüste? Wer machte denn so etwas? Das konnte doch unmöglich gut gehen! Ich hoffte bloß, dass mein Vater es überstanden hatte. Wie sollte er sich denn zurechtfinden, wenn er blind war? Wie sollte er sich um seine Tiere kümmern oder um Wasser? Nach Nhurs Beschreibung nahm ich an, dass seine Augen Schaden genommen hatten, weil sie jahrelang der gleißenden Sonne ausgesetzt gewesen waren. »Ich werde morgen nach ihm Ausschau halten«, nahm ich mir vor. Selbst wenn das eine weitere endlose Fahrt bedeutete – dann musste es eben sein.
Als ich Mama fragte, ob ich bei ihr schlafen dürfte, meinte sie, wir würden nicht alle ins Bett passen. Sie hatte nur ein paar Tücher auf einer Matte ausgebreitet und darüber hing ein zerrissenes Moskitonetz, das kaum für Mohammed Inyer und sie ausreichte.
Als Kind schlief ich oft unter den Sternen, weil es in den Hütten heiß ist und sie keine großen Fenster haben, durch die der Wind wehen kann. Draußen geht für gewöhnlich immer eine leichte Brise, wenn die Sonne gesunken ist und die Nacht hereinbricht. Am liebsten hätte ich heute wirklich draußen geschlafen – allerdings gibt es nach einem Regenguss immer besonders viele Moskitos, und dann hält man sich besser im Innern auf.
Also ging ich zu meiner neuen Schwägerin, um dort zu übernachten. Ich teilte mir die Schlafmatte mit Nhur und ihrer kleinen Tochter. Meine Nichte ist fast zwei Jahre alt. Während meines Somalia-Aufenthalts schlief ich bei den beiden. Mama zog es vor, in ihrer baufälligen Hütte aus Stöcken zu hausen, die sie selber gebaut hatte. Burhaans Heim dagegen ist viereckig und aus weiß getünchten Lehmziegeln gebaut. Es hat zwei Zimmer und einen weiteren Raum in Planung. Wenn der Anbau fertig ist, wird meine Mutter dort hoffentlich einziehen. Aber eigentlich hat sie die meiste Zeit ihres Lebens nur in selbst fabrizierten Hütten gewohnt.
Ich war sehr müde nach der anstrengenden Fahrt. Doch meine Ängste und Sorgen hatten mich auch emotional erschöpft, und ich konnte lange nicht einschlafen. Am nächsten Morgen würde ich sie alle wieder sehen und konnte es kaum erwarten. Schlaflos lag ich neben meiner Schwägerin und ihrer kleinen Tochter und sehnte mich danach, endlich zur Ruhe zu kommen. Ich lauschte auf den Regen, der aufs Dach trommelte, und schließlich überkam mich tiefer Frieden. Meine Mutter hatte ich gefunden, und ich wusste, dass mein Vater noch am Leben war – auch wenn er im Krankenhaus lag –überdies waren all meine Verwandten um mich herum.
Plötzlich spürte ich etwas und sah einen dunklen Schatten an meinem Bein unterhalb des Knies. Glücklicherweise entdeckte ich ihn überhaupt, denn es war sehr dunkel. Angestrengt starrte ich hin und meinte, einen Skorpion zu erkennen. Ich flüsterte Nhur zu: »Ist es das, für was ich es halte?« Uns ist schon als Kindern beigebracht worden, niemals in Panik zu geraten, deshalb blieb ich ganz still liegen. Vielleicht krabbelte der Skorpion ja nur über mich hinweg. Man glaubt vielleicht, man könnte ihn abstreifen, bevor er zusticht; aber ich wusste ganz genau, dass man sich erst dann bewegen darf, wenn man so eine Situation wirklich beherrscht. Deshalb starrte ich wie gebannt auf das Tier und wiederholte: »Ist es das, für was ich es halte?«
Nhur wisperte mir ins Ohr: »Oh, ja!«
Wir nennen einen Skorpion
hangralla
. Als er neben die Matte kroch, sah ich an seinem gebogenen Schwanz, dass es tatsächlich ein
hangralla
war. Seiner Größe nach zu urteilen, musste er der Großvater aller Skorpione sein. Er war gekommen, um mich zu Hause in Somalia zu begrüßen. Rasch sprang ich auf und zertrat ihn.
Trotzdem hatte ich keine Angst, mich danach wieder zum Schlafen hinzulegen. Entschlossen schob ich all meine Sorgen, meinen Stress und mein Chaos beiseite und ließ mich von der somalischen Nacht und der Stille einhüllen. Die Leute behaupten, Somalia sei eins der gefährlichsten Länder der Welt, aber ich war ganz ruhig. Ich empfand plötzlich einen Frieden, wie ich ihn kaum mehr kannte.
Und ich schlief so gut wie seit langem nicht. Mir kam es ganz bequem vor, auf dem Boden zu liegen. Man kann nicht aus dem Bett fallen und stößt sich nirgendwo an. Es ist auch gut für den Rücken. In New York wache ich ständig auf und mache mir wegen irgendetwas Sorgen. Aber
Weitere Kostenlose Bücher