Nomadentochter
und er konnte alle möglichen Krankheiten haben. In meiner Kindheit waren bei den Ziegen, die ich hütete, seine in der Überzahl.
Am sehnlichsten wünschte ich mir damals ein paar Schuhe. Und jetzt als Erwachsene begriff ich, warum. Überall ragten spitze Steine aus dem Boden, und ich konnte mich nur zu gut daran erinnern, wie die Steine und Dornen sich in meine bloße Haut gebohrt hatten. Manche Dornen waren so lang, dass sie leicht durch den ganzen Fuß drangen. Ich sprang und rannte gerne als kleines Mädchen; mit all meiner Energie konnte ich gar nicht aufhören, mich zu bewegen. Meine Füße waren ständig voller Schnitte und blauer Flecken, vor allem, wenn ich wieder einmal den Ziegen hatte nachklettern müssen. Ich beneidete sie um ihre harten Hufe – ihnen konnte nichts etwas anhaben. Nachts schmerzten und bluteten meine Füße oft. Also bat ich meinen Onkel um ein Paar Schuhe als Bezahlung dafür, dass ich seine Ziegen hütete. Schließlich passte ich jeden Tag auf die Tiere auf, damit ihnen nichts passierte. Wenn es heiß und trocken war, musste ich weite Strecken mit ihnen zurücklegen, bis sie etwas zu fressen fanden. Oft kam ich erst nach Einbruch der Dunkelheit wieder nach Hause und dabei verletzte ich mir die Füße am schlimmsten. Bis zum heutigen Tag bin ich ganz besessen von Füßen und Schuhen – es ist das Erste, worauf ich bei anderen achte. Ich besitze nicht viele Kleider, weil ich mir nicht besonders viel daraus mache, aber Schuhe liebe ich geradezu. Allerdings kaufe ich mir nur bequeme Schuhe, keine hochhackigen Pumps – denn darin fühlt man sich nicht anders, als wenn man auf einem spitzen Stein steht. Und warum soll ich das tun, wenn es nicht unbedingt sein muss?
Endlich willigte Onkel Achmed ein, mir vom Markt in Gelkayo Schuhe mitzubringen. Nachts träumte ich von ihnen und stellte mir vor, dann wie auf einem Zauberteppich zu wandeln. Ich konnte überallhin gehen, ohne mir wehzutun, und würde so schnell laufen wie die Strauße, wenn man einen Stein nach ihnen wirft, oder wie die Gazelle, wenn sie einen jagenden Löwen wittert. Als mein Onkel endlich vom Markt kam, tanzte ich vor Freude, jubelte und schrie: »Schuhe, Schuhe!« Mein Vater brüllte mich an, ich solle endlich still sein und den Mann in Frieden lassen; aber ich war so aufgeregt, dass ich nicht von seiner Seite wich. Onkel griff in seine Tasche und überreichte mir ein Paar billiger Gummischlappen – nicht die soliden Ledersandalen, die ich erwartet hatte. Ich war so wütend, dass ich sie ihm ins Gesicht warf.
Nhur hatte ein Feuer entzündet, und der Tee für unser Frühstück dampfte schon. Sie hatte an diesem Morgen auf dem Markt Leber gekauft und diese für meine Mutter gekocht. »Sie kann vieles nicht essen, weil die schreckliche Kugel immer noch in ihr steckt«, erklärte sie mir. »Mama muss sich ständig übergeben, und sie ist viel zu dünn.« Das fand ich auch. »Hoffentlich vermehrt die Leber ihr Blut ein bisschen«, sagte Nhur und stellte die Schüssel vorsichtig vor meiner Mutter auf die Erde. Mama setzte sich und begann zu beten, als Mohammed Inyer hereinwackelte. Er hatte Hunger und wollte auch etwas von der Leber. Da er noch zu klein war, um Hosen zu tragen, hockte er sich mit seinem nackten Hintern direkt vor meine Mutter.
Sie unterbrach ihr Gebet und sagte ruhig: »Kind, nimm deine Eier von meinem Frühstück.« Ich lachte immer noch, als Ragge, der Sohn von Onkel Achmed, auftauchte.
Meine Mutter begrüßte ihn herzlich und erinnerte mich noch einmal daran, dass ich meinen Onkel besuchen sollte. »Du gehst am besten gleich los«, meinte sie warnend, »sonst denkt dein Onkel am Ende noch, du zögest meine Seite der Familie vor.« Bevor ich damals weglief, war Ragge noch ein kleiner Junge, und ich passte immer auf ihn auf, wenn meine Tante keine Zeit hatte. Jetzt war er um die dreißig, groß und schlank, und sprach hervorragend Englisch. Ich mochte ihn sofort. Er hatte einen altmodischen Haarschnitt, kurz an den Seiten und länger auf dem Kopf. In der Hosentasche trug er einen Afro-Kamm bei sich, mit dem er sich alle fünf Minuten durch die Haare fuhr.
Ragge begleitete mich durch das Dorf, um mir den Weg zu seinem Haus zu zeigen. Im Ort standen vielleicht sechzig Häuser mit einem oder zwei Zimmern in unterschiedlichen Stadien der Fertigstellung. Die meisten Leute hatten aus Buschwerk und Zweigen notdürftige Unterkünfte errichtet. Die Familien mit genug Geld, um sich Baumaterialien zu kaufen,
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