Nomadentochter
der Platte – so wie die Franzosen ihre Crèpes. Dann kommt ein Deckel darüber, und das Ganze wird etwa drei bis vier Minuten gebacken.
Onkel Achmed rief seine Tochter Asha. »Bring Afdokle zehn Angella und Tee. Schließlich kann sie die Fladen ohne Tee nicht runterschlucken. Sie verhungert, sieh sie dir doch an! Und ich habe immer geglaubt, in Amerika gäbe es so viel zu essen!«
»Onkel, ich kann nicht zehn Stück essen. Vier reichen vollkommen.«
Asha brachte Gewürztee mit Ziegenmilch und Angella auf einer gezackten Blechplatte. Man gießt ein wenig Tee über die Fladen, um sie weich zu machen. Messer oder Gabel benutzen wir nicht, wir essen mit den Fingern.
Ich hatte diesen besonderen, etwas säuerlichen Duft seit all diesen Jahren nicht mehr gerochen und war so aufgeregt, dass ich zugriff, ohne nachzudenken.
Mein Onkel zuckte zusammen wie ein ärgerliches Kamel. »Nein! Warte! Warte!«, schrie er. »Das ist doch deine linke Hand, mein Kind! Deine linke Hand! Damit isst man nicht!«
»Oh, Onkel, es tut mir Leid«, stotterte ich. »Das habe ich... vergessen ...entschuldige!« Ich schämte mich. Als Linkshänderin hatte ich das Essen mit der linken Hand genommen, weil es im Westen keine Rolle spielt. In Somalia jedoch ist es äußerst wichtig, nicht zu verwechseln, welche Hand man für was benützt. Mit der Rechten berührt man alles außer dem Unterleib, weil dieser Teil des Körpers als unrein gilt. Wenn man auf der Toilette war, wäscht man sich mit der linken Hand mit Wasser ab, weil wir kein Klosettpapier haben. Mit der Rechten wäscht man sich auch sonst nicht. Die linke Hand ist also zur Säuberung bestimmt und mit der anderen isst man, beziehungsweise verrichtet Sonstiges.
Onkel schüttelte seinen weißhaarigen Kopf. »Warst du denn so lange fort? Hast du alles vergessen, was du wusstest?« Er blickte mich argwöhnisch an. »Wie kannst du nur vergessen, sauber zu bleiben, Mädchen? Alles darfst du in Somalia vergessen, aber das nicht!«
Ich war so hungrig, dass ich vor lauter Gier das Angella so schnell wie möglich in den Mund stecken wollte. Tatsächlich benahm ich mich wie in New York und dachte nicht daran, welchen Respekt Somalis dem Essen entgegenbringen. Bei uns gibt es kein »Fastfood«, wir essen nicht auf der Straße oder während wir unterwegs sind. Hier bekommt man beigebracht, dass Essen ein Geschenk von Allah ist – ein Segen, der mit Achtung behandelt werden muss. Als ich ein Kind war, aß man nicht, weil man Lust dazu hatte, sondern um sich zu erhalten – um dem Tod zu entrinnen. In Somalia schiebt man sich Nahrungsmittel nicht einfach gedankenlos in den Mund. Man setzt sich, spricht ein Dankgebet und genießt jeden Bissen. Jetzt hatte ich nicht nur nach dem Essen gegrapscht, ohne zu beten und ihm Respekt zu erweisen, sondern hatte es obendrein mit der linken Hand getan.
Ich holte tief Luft und begann von neuem, dankte Allah für meinen Onkel, für diesen Tag und diese Mahlzeit. Dann kaute ich das Angella andächtig. Es war köstlich. Während des Essens betrachtete ich meinen Onkel. Er hatte einen dünnen Schnurrbart und ein paar weiße Barthaare am Kinn. Sein
maa-a-weiss
war grau-schwarz. Als ich genauer hinsah, stellte ich fest, dass er sich komisch an die Hausmauer lehnte. Seine Unterlippe hing herunter, und er sprach sehr langsam – als fiele es ihm schwer, die Worte zu bilden. Mohammed unterbrach ständig: »Hiiyea?« Onkel musste unentwegt wiederholen, was er gesagt hatte.
»Was ist mit deinem Vater los?«, fragte ich Asha, als sie uns Tee nachschenkte. »Warum stützt er sich so ab?«
»Eines Abends ist er schlafen gegangen, und als er aufwachte, konnte er seinen linken Arm und sein linkes Bein nicht mehr gebrauchen. Die eine Seite war in Ordnung, aber die andere hing schlaff herunter.«
»Oje«, sagte ich, »was hat der Arzt dann gesagt?«
»Hier gibt es keinen Arzt.«
»Hast du ihn nicht ins Krankenhaus gebracht?«
»Nein. Es ist viel zu weit, und er konnte ja nicht laufen. Warum sollten wir ihn außerdem wegschaffen, wo er doch krank ist?«
»Wie bitte?« Ich konnte es nicht glauben. Da wachte der Mann halb gelähmt auf, und sie brachten ihn nicht einmal ins Krankenhaus. »Wann ist das passiert?«
»Vor ein paar Tagen«, gab Asha Auskunft. »Aber heute geht es ihm schon wieder besser. Alhamdillah!« Offenbar hatte sie sich einfach in das Schicksal ergeben und war jetzt Allah dankbar dafür, dass es irgendwie aufwärts ging. Ich verstehe, warum meine Familie
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