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Nomadentochter

Titel: Nomadentochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Waris Dirie
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glaubt, dass man eben sterben muss, wenn der Zeitpunkt gekommen ist. Gemäß Allahs Wille hat man den Tod als Teil des Lebens zu akzeptieren. Dagegen gibt es nichts einzuwenden; aber daneben wissen sie leider nicht, dass man geheilt werden kann, wenn man krank ist. Sie glauben nicht an Ärzte, weil sie außer ihrer kleinen Welt einfach nichts anderes kennen.
    »Onkel«, sagte ich, »schildere mir mal, was geschehen ist.«
    »Ich bin aufgewacht und konnte meine linke Seite nicht mehr bewegen.« Geduldig und resigniert blickte er mich an. »Es tut zwar nicht weh, aber mein linker Arm macht nicht mehr mit, und beim Gehen ziehe ich das Bein nach.«
    »Hiiyea!«
    »Deine Mutter hat mir Tee aus der zermahlenen Schale eines Straußeneis und Fieberbaumrinde gekocht.«
    Obwohl ich wusste, dass die Hausmittel meiner Mutter viele Krankheiten heilen konnten, wollte ich doch der Sache auf den Grund gehen. Also sagte ich zu Ragge: »Wir nehmen ihn mit, wenn wir meinen Vater im Krankenhaus besuchen.«
    Ragge zuckte die Schultern und erwiderte: »Wozu denn? Wie sollen sie ihm denn da helfen?«
    »Nun, zumindest werden sie die Ursache seiner Lähmung feststellen und können ihm Medikamente geben oder ihn vielleicht operieren, wenn es nötig ist«, erklärte ich ihm.
    Asha half ihrem Vater beim Waschen. Sie holte eine kleine Schüssel mit Wasser und wusch ihm Gesicht und Arme mit einem Lappen. Dann zog sie ihm ein blaues Hemd und eine Jeansjacke an. Sie hob den herunterbaumelnden Arm und führte ihn in den Ärmel. Ein Verwandter von Ashas Mann hatte ein Taxi, und ich fragte, ob er uns zum Krankenhaus nach Gelkayo bringen könnte. Ich setzte mich mit ihrem Vater nach hinten, Mohammed und Ragge nahmen auf dem Beifahrersitz Platz. Unsere Fahrt dauerte mehr als drei Stunden; aber ich machte mir keine Gedanken darüber, wie wir zurückkommen sollten. Dort gab es ein Hospital, in dem höchstwahrscheinlich mein Vater lag und wo man meinem Onkel helfen konnte.
    Die somalische Wüste besteht nicht aus Sand, sondern aus dunkelroter Erde mit weißen Felsen und niedrigen Dornbüschen, die sie sprenkeln wie das Fell eines Leoparden. Wenn es geregnet hat, sprießen überall Pflanzen aus dem Boden. Winzige Blätter erscheinen an den Büschen und Akazienbäumen. Überrascht sah ich während der Fahrt, wie lebendig alles aussah. Mit dem Regen hatte sich die schreckliche Hitze aufgelöst, die Erde war tiefrot, fast wie Blut, und die Luft so frisch und sauber, dass ich sie tief einatmete. Warum steht so etwas nie in der Zeitung? Dort jagen sie immer nur den Schreckensmeldungen nach. Obwohl mein armes, kleines Land viel Trauriges erlebt, so ist es doch auch wunderschön. Ach, wenn doch Tränen Regen wären!
    Unterwegs gelangten wir an einen Kontrollpunkt, der von Männern mit langen Gewehren über der Schulter bewacht wurde. Ragge sagte, es gäbe an den Territoriumsgrenzen der einzelnen Stämme überall Sicherheitskräfte.
    »He«, flüsterte ich ihm vom Rücksitz zu, »sie machen doch nicht wirklich Gebrauch von diesen Gewehren, oder?«
    »Darauf kannst du aber wetten. Sie kontrollieren genau, was du bei dir hast oder wer dich begleitet – glaub mir, einiges kann schief gehen. Vielleicht mögen sie dich auch einfach nicht. Wenn du zu einem anderen Stamm gehörst und sie wollen Geld oder sonst etwas von dir, dann gibst du es ihnen besser. Sie haben keine anderen Einkünfte, weil sie nicht von der Armee bezahlt werden.«
    »Hoffentlich tun sie uns nichts«, bemerkte ich mit klopfendem Herzen. Wir hielten an, und einer der Soldaten spähte ins Auto. Da wir ohne Umstände zahlten, öffnete er die Schranke und winkte uns durch. Die anderen Soldaten beachteten uns nicht weiter.
    Als Kind begann ich immer zu zittern, wenn ich das Wort
Aba
, Vater, hörte. Allein der Gedanke an meinen Vater jagte mir schon Angst ein. Aber trotz meiner widerstreitenden Empfindungen wollte ich ihn unbedingt sehen. Ich wollte ihm ins Gesicht blicken; ich wollte, dass er mich anschaute und begriff, was aus dem kleinen Mädchen geworden war, das er immer herumgeschubst hatte. Ein Gesicht, das auf den Titelseiten von Zeitschriften und in Filmen prangte! Ein Gesicht, das Menschen auf der ganzen Welt kannten! Ich wollte, dass er sich an seine Worte erinnerte. »Du bist keine von uns. Ich weiß nicht, von wo du stammst!« Das hat mich am meisten verletzt, und vielleicht bin ich auch deshalb all die Jahre nicht zurückgekommen.
    Über das Krankenhaus in Gelkayo hatte ich mir keine

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