Nomadentochter
großen Gedanken gemacht; aber mein Herz sank, als ich es nun erblickte. Die meisten Gebäude sahen so aus, als habe man auf halbem Weg aufgehört, daran zu arbeiten. Überall standen Stapel von Ziegelsteinen und anderen Baumaterialien herum. Mohammed und Ragge halfen meinem Onkel aus dem Wagen und stützten ihn, damit er zur Ambulanz humpeln konnte.
Während wir auf den Arzt warteten, sah ich mich um. Nur zwei kleine Zimmer waren fertig gestellt. In einem Raum standen ein Mikroskop und ein paar Flaschen mit Medizin. Es gab keine Schränke mit Instrumenten oder Medikamenten, und auch keine anderen Geräte. Durch die Holzläden vor den Fenstern drang Licht, und hier und dort sah man ein paar leere Tabletts und Flaschen. Die Wände waren unten hellblau und oben rosa gestrichen. An einer davon hing eine gerahmte Augenkarte. Im Badezimmer lagen stapelweise Fliesen, die Toilette war nicht angeschlossen. Und dies stellte die einzige medizinische Einrichtung weit und breit dar. Was sollten die Ärzte hier machen, wie sollten sie den Verletzten oder Kranken helfen? Es sah nicht so aus, als ob sie röntgen oder Bluttransfusionen vornehmen konnten.
Schließlich kam eine Schwester und sagte, sie würde uns das Zimmer zeigen, in dem mein Vater lag. Plötzlich fühlte ich mich ganz schwach und verängstigt. Einerseits hoffte ich, auf den Krieger zu treffen, den ich gekannt hatte, andererseits hatte ich Angst vor dem, was ich vorfinden würde. Ich holte tief Luft und folgte ihr langsam.
Der Raum war voller Menschen – alles Verwandte meines Vaters. Sie erkannten Mohammed sofort und begrüßten ihn lautstark mit Umarmungen und Freudenschreien. Er stellte mich ihnen vor: »Das ist meine Schwester Waris«, und wieder begannen alle zu schreien, aber ich bekam kaum Luft und wollte nur meinen Vater sehen.
»Mohammed«, bat ich ihn, »sag nichts. Ich möchte Aba als Erste begrüßen.« Dann drängte ich mich zwischen den Leuten hindurch und fand ihn.
Er lag auf einem schmalen Bett. Neben ihm saßen zwei Neffen. Ganz still lag er da. Seine Augen waren verbunden, und er hatte die Arme über der Brust verschränkt wie ein Toter. Als ich ihn sah, brach ich zusammen. Die Tränen strömten mir über die Wangen, und ich ergriff seine Hand. Ich wollte nicht, dass jemand mich weinen sah oder mein Schluchzen hörte; deshalb legte ich meine Wange an seine und ließ meinen Tränen dann freien Lauf. Er sah schrecklich aus, aber ich dankte Allah, dass er noch am Leben war und dass ich ihn gefunden hatte. Ich schämte mich, weil ich so lange nicht da gewesen war und meiner Familie in schwierigen Zeiten nicht geholfen hatte. Seine Haare waren ganz grau, und er hatte nur noch ein schütteres Bärtchen. Mit seinen tief eingesunkenen Wangen wirkte er zerbrechlich und hinfällig.
»Wer ist das?«, fragte Aba.
Ich küsste ihn und flüsterte: »Ich bin es, Aba, Waris.«
»Wer ist das?«, wiederholte er.
»Vater, Vater, ich bin es doch, Waris.«
»Waris?«, meinte er zögernd. »Ich hatte einmal eine Tochter, die Waris hieß, aber jetzt nicht mehr. Ich weiß nicht, was aus ihr geworden ist. Bitte, mach keine Scherze darüber.«
»Aba, o Aba! Ich bin es wirklich!«
»Was? Waris? Sie ist schon viel zu lange weg, um auf einmal aus dem Nichts aufzutauchen.«
»Vater, glaub mir doch!«
»Was? Bist du wirklich Waris? Oh, meine Tochter, meine Tochter! Ich dachte, du seist tot«, krächzte er, wandte mir den Kopf zu und drückte meine Hand.
»Was ist mit deinen Augen passiert?«, fragte ich ängstlich.
»Oh, es geht mir gut, es geht mir gut. Alhamdillah, es geht mir gut! Vor zwei Tagen ist mein Auge operiert worden«, seine Antwort klang wie eine Geschichte.
»Wo bist du operiert worden? Hier im Krankenhaus?«
»Ein Buschdoktor hat es gemacht.« Fassungslos hakte ich nach: »Was hat er mit deinem Auge angestellt?«
»Er hat mit dem Messer hineingeschnitten und die Haut über dem Auge abgezogen.«
»Wer ist er? Ein Arzt? Wer schneidet denn bei solchen Verhältnissen einem Mann ein Auge auf?«
Mein Vater murmelte: »Er hat behauptet, er sei Arzt.«
Ich tätschelte seine Hand. »Aba, hast du etwas gegen Schmerzen bekommen?«
»Kind«, knurrte er jetzt, »was glaubst du denn? Natürlich habe ich Schmerzen. Doch ich konnte mit dem einen Auge nur noch Schatten sehen, und auf dem anderen bin ich blind. Ich spürte, wie er hineingeschnitten hat – aber ich musste bloß stillhalten.«
»Das ist ja Wahnsinn!«, stöhnte ich auf. »Du kannst doch nicht
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