Nomadentochter
jemanden mit einem Messer an deinem Auge herumschneiden lassen.«
»Waris! Waris, du bist es wirklich – meine Tochter!« Endlich glaubte mein Vater es. »Du hast dich nicht die Spur verändert. Immer schon warst du aufsässig, und jetzt stiftest du wieder Unruhe.«
Bei diesen Worten wirkte er genauso wie früher, stark und hart – ein echter Krieger. Ich konnte gar nicht mehr aufhören zu weinen. »Kind, du darfst Tränen vergießen, wenn ich tot bin«, meinte er und drückte meine Hand. »Im Moment bin ich gerade auf der Suche nach einer weiteren großen Frau.«
Das war mein Vater – derjenige, an den ich mich erinnerte. Er machte sogar noch Witze, wenn er blind und hilflos in einem Bett lag. Ich betrachtete ihn lange, diesen alten Mann. Trotz seines Alters und seines schweren Lebens sah er eindrucksvoll aus. Sein Gesicht ist ein perfektes Oval, und die tiefen Falten betonen diese Form noch.
Mein Vater war sein ganzes Leben lang Nomade. Er ist von Weide zu Weide gezogen, aber nie über die Landesgrenzen hinausgekommen, nie hat er eine Stadt mit Verkehr oder Telefonen kennen gelernt. Er wusste nichts von moderner Medizin. Wie seine Familie seit jeher, ging er zu einem Buschdoktor und ließ sich sein Augenleiden mit einem Messer und einem Gebet zu Allah kurieren. Gleichzeitig nahm er sein Schicksal auf sich, so wie er alles hinnahm, ohne Tränen und Vorwürfe. Diesen Frieden des Herzens kann einem kein Arzt verschaffen.
Auf einmal hörte ich eine Stimme, und dann stand mein Bruder Burhaan neben mir. Bei seinem guten Aussehen hätte mein Vater sich glücklich schätzen können, wenn er ein Mädchen geworden wäre. Er ist so vollkommen, dass sich Stämme wegen ihm bekämpfen würden. Seine glatte Haut wirkt wie gemalt. Ich streichelte ihm über die Wange und umarmte ihn fest. Er ist nicht ganz so groß wie Mohammed, hat gleichmäßige Gesichtszüge und ist eine gelungene Mischung aus beiden Elternteilen.
Burhaan berichtete, in was für einer schlechten Verfassung Aba wegen der Schmerzen und der Schwellung gewesen sei, als er ihn gefunden hatte. Alle Adern in seinem Kopf waren geschwollen, und er hatte so hohes Fieber, dass er delirierte. Mein Bruder befürchtete, er würde sterben oder einfach in den Busch laufen, wo die Hyänen so geschwächten Kreaturen auflauerten. Also brachte er ihn ins Krankenhaus, wo unsere Verwandten bei ihm blieben und ihn pflegten. In Somalia würde niemand ein Familienmitglied im Krankenhaus der Pflege Fremder überlassen. Die Verwandten lagern direkt daneben, damit sie Gebete sprechen und besonderes Essen kochen können.
Ich sagte: »Wir möchten dich gerne mit nach Hause nehmen, Vater, damit wir uns dort um dich kümmern. Wir haben ein Auto, denn du kannst nicht laufen.«
»Nach Hause? Welches Zuhause?«, fragte Aba.
»Mohammed und ich nehmen dich mit in Mutters Haus.«
»Nein, zu dieser Frau gehe ich nicht«, wehrte er ab.
»Vater«, beschwor ich ihn, »wir müssen dich mitnehmen, damit wir dich pflegen können. Mohammed und ich sind nur noch ein paar Tage hier. Wir lieben dich, wir wollen für dich sorgen, deshalb sollst du in den nächsten zehn Tagen bei uns sein.«
»Nein«, beharrte er. »Ich will nicht zu euch. Ihr könnt mich in meinem Heim besuchen.«
Burhaan erinnerte ihn an die gähnende Leere in seiner Hütte, und auch Mohammed flehte ihn so lange an, bis er schließlich einwilligte. Wir baten den Arzt, ihn zu entlassen und vereinbarten, ihn auf dem Rückweg mitzunehmen.
Ich fragte, ob ein Arzt einen Blick auf meinen Onkel werfen und uns sagen könnte, was ihm fehlte und ob es Hilfe für ihn gäbe. Die Krankenschwester wies uns an, ihn zur Ambulanz zu bringen. Sie trug einen weißen Kittel und einen safrangelben Schal um den Kopf. Er bedeckte Gesicht und Schultern fast bis zur Taille. Mir kam es seltsam vor, dass eine berufstätige Frau sich verschleierte. Sie begleitete uns zum Arzt in die Ambulanz und blieb dann hinter ihm stehen, falls er etwas brauchte. Der Arzt entnahm Blut aus dem Arm meines Onkels. Mein Onkel zuckte nicht einmal, als er ihn mit der Nadel piekste, denn damit hätte er Schwäche gezeigt. Ruhig und geduldig ließ er alles über sich ergehen, aber mir fiel auf, dass die Venen an seinem Kopf hervortraten. Der Arzt sah ihm in die Augen, maß seinen Blutdruck und klopfte mit einem kleinen Silberhammer gegen sein Knie. Er horchte sein Herz ab und untersuchte die Ohren. Die ganze Zeit über blickte Onkel mich an, nicht den Arzt. Solange ich mit
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