Nomadentochter
dem, was geschah, einverstanden war, würde er sich nicht mucksen.
Der Arzt hatte ein rundes, pockennarbiges Gesicht mit tiefen Löchern in beiden Wangen. Die Brille hing an einer Kette um seinen Hals, und er trug eine riesige goldene Uhr. Sie war ein bisschen zu groß für sein Handgelenk und rutschte hin und her, wenn er gestikulierte. Er sprach ein ausgezeichnetes Englisch, und mir fiel es leichter, mich mit ihm in dieser Sprache zu unterhalten als auf Somali, weil ich die Begriffe für moderne Medizin in meiner Muttersprache nicht kannte.
»Was hat mein Onkel?«, fragte ich ihn. »Können Sie ihm helfen?«
»Wir können ihm Medikamente geben«, sagte er.
»Wann wird es ihm wieder besser gehen?«
»Sein Blutdruck ist zu hoch, er hatte eine Gehirnblutung.«
»Oh, mein Gott!«, rief ich aus. Ich wusste nicht ganz genau, was das bedeutete, aber es klang auf jeden Fall ernst.
»Und dadurch einen kleinen Schlaganfall. Ein Blutgerinnsel hat die Lähmung auf der linken Seite verursacht.« Er bat meinen Onkel, den linken Arm zu heben. Er schaffte es bis auf Schulterhöhe, aber es kostete ihn viel Kraft.
»Allah macht dich wieder gesund«, sagte ich zu ihm, um ihn aufzumuntern.
»Wenn die Schwellung im Gehirn zurückgeht, wird er sich erholen«, meinte der Arzt. Er stellte ein Rezept aus und gab uns eine kleine Schachtel mit Tabletten. »Diese Medizin muss er jeden Tag nehmen«, ordnete er an, wobei er »jeden« betonte. Auf der Flasche und dem dünnen Papier in der Schachtel standen auch Anweisungen auf Deutsch oder Französisch, die würde im Dorf niemand lesen können.
»Und wenn die Tabletten zu Ende sind?«, fragte ich. Schließlich war es ein weiter Weg nach Gelkayo, und in dem Dorf, in dem meine Familie lebte, gab es keine Apotheke. Man konnte zwar jemanden beauftragen, etwas aus der Stadt mitzubringen; aber meistens kassierten die Boten nur das Geld ein, ohne den Auftrag auszuführen, oder sie brachten das Falsche mit.
»Hier im Ort gibt es ein paar Apotheken«, informierte der Arzt mich. »Sie haben europäische Medikamente.«
Ich hoffte, dass es meinem Onkel besser gehen würde, wenn er die Tabletten in der Flasche aufgebraucht hatte; denn ich vertraute nicht darauf, dass ihm jemand weitere besorgte. »Gibt es Dinge, die er nicht essen sollte?«, fragte ich. Um eine bestimmte Diät konnte er sich selber kümmern. »Wie steht es mit Zucker?« Ich hatte das Gefühl, ich müsse ihm jedes einzelne Wort aus der Nase ziehen – er erklärte einfach nichts. Und dabei wollte ich doch genau erfahren, wie es passiert war; schließlich ist es nicht normal, gelähmt aufzuwachen, aber der Arzt blieb einsilbig.
»Kein Zucker, kein Salz. Alles andere kann er essen.«
»Wie lange sind Sie schon hier?«, erkundigte ich mich. An der Wand hinter ihm hing ein handgeschriebenes Schild mit seinem Namen, Dr. Achmed Abdillahi. Ich fragte mich, ob er wohl wusste, dass die meisten Nomaden so viel Milch und tierisches Fett zu sich nehmen, wie sie bekommen können, da Gemüse und Obst Mangelware sind.
»Hier in Puntland?«, fragte er. Er sagte nicht Somalia, nicht einmal Somaliland.
»Ja, hier in Puntland.«
»1970 habe ich in Italien Examen gemacht«, gab er knapp Auskunft. »Ich bin Neurochirurg.«
Ich traute dem Mann nicht so recht, deshalb sagte ich: »Wie können Sie den Leuten denn mit dem wenigen, was Sie hier zur Verfügung haben, überhaupt helfen?«
»Hier wird einmal eins der besten Krankenhäuser in dieser Ecke von Afrika entstehen«, entgegnete er ernsthaft. »Wir bauen ein neues, unterstützt von England. Wenn es erst einmal fertig ist, können wir hier auch operieren.«
»Mit welchen größeren medizinischen Problemen haben Sie hier denn zu tun?«, insistierte ich.
»Das kann ich wirklich nicht sagen«, wich er aus.
»Mit Aids?«
»Manchmal, aber nicht allzu häufig.«
»Warum wollen Sie mir die größten medizinischen Probleme nicht nennen?«
»Ich bin Chirurg. Sie sollten besser jemanden anders fragen.«
Bei den anderen Angestellten versuchte ich, mehr zu erfahren, aber niemand wollte mit mir reden. Einen Arzt mit Gesichtsmaske fragte ich, wie lange er schon hier sei.
»Erst einen Monat«, gestand er.
»Was war die schlimmste Erkrankung, mit der Sie bisher konfrontiert waren?«
»Tbc«, nuschelte er und wandte sich wieder seinem Bunsenbrenner zu.
Da wir schon einmal in Gelkayo waren, beschlossen wir, einkaufen zu gehen. Seit unserer Ankunft dachte ich ständig ans Essen, wahrscheinlich weil es
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