Nomadentochter
antraten. In der Zwischenzeit wollte ich in Gelkayo ein wenig Geld auf einer Bank wechseln. Kaum hatte ich es erwähnt, begann Mohammed sich mit mir zu streiten.
»Ich will nicht, dass du mich begleitest. Du bringst mich immer in Schwierigkeiten.«
Mein Bruder blitzte mich an. »Ich sollte aber besser mitkommen, Waris – du weißt nämlich nicht Bescheid!«
»Mach dir keine Gedanken, Mohammed«, zitierte ich ihn. »Ragge kommt mit. Du bleibst am besten hier bei Onkel Achmed.« Wütend zog Mohammed ab. Ich lief hinter ihm her und wollte wissen, was mit ihm los war. Er meinte, ich solle Ragge nicht trauen. »Er gehört zwar zur Familie, aber er steht dir nicht so nahe wie dein Bruder«, erklärte Mohammed. »Lass ihn nicht das Geld auf der Bank wechseln; du weißt ja nicht, wie viel dir dafür zusteht.«
Mein Bruder und ich sind uns leider sehr ähnlich. Ich hatte es satt, mir von ihm ständig vorschreiben zu lassen, wie ich mich verhalten sollte. Also fuhr ich mit Ragge zur Bank.
In muslimischen Ländern dürfen Frauen nicht in ein Geldinstitut, deshalb wartete ich draußen. Ich gab Ragge ungefähr dreihundertfünfzig Dollar und blieb im Auto, während er die Bank betrat. Sie sah aus wie ein Lagerhaus, einfach nur eine große Schachtel mit einer Tür. Schon bald kam Ragge zurück und reichte mir das umgetauschte Geld in drei Stapeln. Ich hatte hundert Dollar für meinen Vater, zweihundertfünfzig für meine Mutter und hundert Dollar für unsere Reise gewechselt. Ragge gab mir jeden einzelnen Shilling und schrieb sogar noch die Namen auf die verschiedenen Notenbündel. Es war jeweils eine Mischung aus beiden Währungen, damit wir überall bezahlen konnten.
Als wir zum Haus meines Vetters zurückkamen, redete Mohammed eine Stunde lang nicht mit mir. Er schaute an mir vorbei und ignorierte mich, so wütend war er. Es kümmerte mich aber nicht, weil immer mehr Menschen herbeiströmten. Sie hatten gehört, dass wir zu Besuch waren, und wollten uns begrüßen. Ich habe eine sehr große Familie, Verwandte, von denen ich noch nie etwas hörte. Alle wollten mich kennen lernen und mich begrüßen – ich fand es schön und schrecklich zugleich. Zwar hat es mir immer gefallen, zu einer so großen Familie zu gehören und so viele Leute zu treffen, denen ich etwas bedeutete; aber die meisten Verwandten brauchten oder wollten etwas von mir, und das war recht ernüchternd. Was konnte ich schon für sie tun? Mein Onkel Ali rief nach einem kleinen Mädchen und sagte ihr, sie solle sich neben mich setzen.
»Dieses Kind ist sehr krank«, begann er.
»Was hat sie denn?«, fragte ich und ergriff ihre Hand.
»Sie hat eine Krankheit.«
»Weißt du, um welche es sich handelt?«
»Nein, aber ihr sind alle Haare ausgefallen, und sie wird immer dünner. Sie wiegt so viel wie eine Feder und wächst nicht mehr.«
Ich konnte nichts an ihr feststellen, weil sie wie die meisten somalischen Mädchen ein langes Kleid und ein Tuch um den Kopf trug.
»Du sollst sie mit in die Vereinigten Staaten nehmen und dort für sie sorgen.«
»Onkel«, protestierte ich, »ich würde ihr ja gern helfen, aber das geht wirklich nicht.«
»Warum willst du dich um dieses Kind nicht kümmern? Ich weiß genau, dass sie wieder gesund wird, wenn du sie mitnimmst. Hier kann sie nicht geheilt werden – wir haben keine Medikamente gegen diese Krankheit. Du musst etwas für das Kind tun, für sie sorgen und sie retten«, bettelte er unbeirrt weiter.
»Bitte, Onkel, ich habe selber so viele Probleme und Verpflichtungen, dass du es dir gar nicht vorstellen kannst. Dass ich im Westen lebe, bedeutet noch lange nicht, dass mir alles von selbst in den Schoß fällt.«
»Was für Probleme kannst du schon haben?«, entgegnete er. »Hier wird gekämpft, und überall gibt es verrückte Soldaten mit Gewehren. Wir haben kein richtiges Krankenhaus und nie genug zu essen. Welche Probleme sollten da schlimmer sein?«
Es wollte ihm nicht in den Kopf, dass ich unmöglich ein krankes Kind mit nach New York nehmen konnte. Sie hatte vermutlich Leukämie, und ich mochte nicht die ganze Verantwortung für sie tragen. »Onkel, ich werde für sie beten, aber sie wird nicht mit mir nach Amerika kommen. Versteh mich bitte!« Ich streichelte ihr über die Hand und nahm sie in den Arm, aber dann stand ich auf und sagte, wir müssten jetzt wirklich meinen Vater abholen. Es wurde langsam spät.
Auf der Heimfahrt saß ich wieder hinten neben meinem Onkel. Mohammed grollte mir immer noch
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