Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Nomadentochter

Titel: Nomadentochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Waris Dirie
Vom Netzwerk:
und würdigte mich keines Blickes. Er saß vorne und starrte auf die Straße. Wir fuhren sofort zum Krankenhaus zu meinem Vater und Burhaan; aber als wir Gelkayo verließen, war es schon so dunkel, dass man kaum noch etwas sehen konnte. Bis zum Dorf meiner Mutter waren es mindestens hundert Meilen. Kaum hatten wir die Stadt verlassen, fragte mein Vater, wohin wir führen; als ich es ihm erklärte, meinte er, er habe seine Meinung geändert und wolle doch nicht mit uns zu meiner Mutter kommen.
    »Nein, dort fahre ich nicht hin«, beharrte er, ein hilfloser alter Mann mit verbundenem Gesicht und zu schwach, um zu laufen. Mein Onkel versuchte, ihn zu überreden. Er und mein Vater saßen nebeneinander, und mein Onkel legte seinen Arm um seinen Bruder, redete mit leiser, ruhiger Stimme auf ihn ein. Zum ersten Mal sah ich die beiden so nah beieinander, zwei Greise, echte Brüder. Es war ein wunderschöner Augenblick in all der Trauer in ihrem Leben. Wie die Zeit sie doch gebeugt hatte!
    Mein Vater gab jedoch nicht nach, also bat auch ich ihn noch einmal, für ein paar Tage bei uns zu bleiben. »Ich habe dich seit zwanzig Jahren nicht gesehen«, führte ich ins Feld. »Mohammed und ich bleiben doch nur kurz, und wenn du nicht mitkommst, sehe ich dich gar nicht mehr. Bitte, tu uns den Gefallen.« Schließlich willigte er ein, aber vorher wollte er noch an seinem kleinen Haus aus Lehmziegeln vorbeifahren und sich ein paar Dinge holen.
    »Vater«, fragte ich, »wo wohnst du denn?«
    »Da entlang«, antwortete er und zeigte unbestimmt geradeaus.
    Ich versuchte es noch einmal. »Vater, es ist völlig finster draußen, und wir können nichts mehr sehen.«
    Ungehalten äußerte er mit lauter Stimme: »Fahr einfach, wohin ich dir sage, Kind! Ich weiß schon, was ich tue. Fahr nur zu!«
    Meine Brüder und ich mussten lachen über diesen alten Mann, der hinten im Auto saß, nichts sah und trotzdem darauf bestand, dass der Fahrer in die Richtung fuhr, die er angab. Selbst Mohammed hörte auf zu schmollen, weil die Situation ihn erheiterte. Mein Vater war blind und hilflos, doch trotzdem nach wie vor der uneingeschränkte Herrscher über seine Familie. Nur unsere Scheinwerfer durchdrangen die pechschwarze Dunkelheit, und in ihrem Licht sahen wir auch nichts als Steine und Staub. Mein Vater wies nach links, also bogen wir von der Straße ab und fuhren mitten in die Wüste hinein. Plötzlich sagte mein Vater: »Bieg hier ab, bieg hier ab.« Keiner von uns erkannte einen Weg, aber mein Vater meinte: »Ist dort drüben nicht ein Termitenhügel? Kannst du die
dadune
sehen?«
    »Ja, ich sehe sie«, gab Mohammed überrascht zu.
    »Nun, und jetzt musst du nach links abbiegen«, befahl Vater, als sei er schon sein ganzes Leben hier nachts entlanggefahren. Ich hatte keine Ahnung, wie er es schaffte – wir konnten kaum die Hand vor Augen sehen, und mein Vater zeigte uns die Richtung trotz seiner Blindheit.
    Nach ungefähr fünfzehn Minuten fragte er: »Kannst du es sehen?«
    »Was sehen, Vater?«, gab Mohammed zurück.
    »Mein Haus«, verkündete er. »Dort drüben steht es.« Im Licht der Scheinwerfer sahen wir ein paar Hütten auf einem kleinen Hügel. »Gut, wir sind da!«
    Ich fragte: »Welches ist denn dein Haus?«
    Mein Vater verzog das Gesicht und sagte vage: »Ich glaube, das mit der roten Tür.« Dann überlegte er noch einmal: »War sie eigentlich rot?«
    »Vater, wir haben keine Ahnung, welches dein Haus ist«, wandte ich abermals ein.
    »Na ja, ich glaube, die Tür ist rot. Nimm die Taschenlampe und such sie einfach.« Da uns nichts Besseres einfiel, gingen wir zum erstbesten Haus. Mohammed öffnete die Tür, und der Schein seiner Taschenlampe fiel auf eine arme Frau mit drei Kindern. »Oh, Entschuldigung. Es tut uns Leid!« Als wir endlich die Hütte meines Vaters gefunden hatten, konnten wir darin nichts erkennen außer dem schmutzigen Fußboden. Ich lief zurück zum Auto und fragte ihn: »Nach was suchen wir eigentlich?«
    »Nach meinen Hemden«, antwortete er. Ich erkundigte mich, wo sie sein sollten, aber er meinte: »Das weiß ich doch nicht, Kind! Sie werden irgendwo liegen, in der Ecke vielleicht.« Ich krabbelte in die winzige Hütte und tastete den festgestampften Lehmboden ab. Tatsächlich lagen in der Ecke eine Armeejacke und zwei Hemden. Sie waren völlig verdreckt, voller Flecken und stanken fürchterlich nach Schweiß. Ich ließ sie an Ort und Stelle, und sagte zu meinem Vater: »Aba, vergiss die Hemden! Sie sind

Weitere Kostenlose Bücher