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Nomadentochter

Titel: Nomadentochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Waris Dirie
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schmutzig.«
    »Bring sie sofort her«, giftete er. Ich erfüllte seinen Wunsch; dann zogen wir die Tür einfach hinter uns zu, weil es kein Schloss gab, und kehrten zum Wagen zurück. Als wir gerade einsteigen wollten, bemerkte ich die drei Kinder, die am Auto standen und mit meinem Vater redeten. Ich fragte ihn, wer sie seien, und er entgegnete: »Begrüß sie, das sind deine Brüder.« Er erklärte, die Jungen seien von der Frau, von der er sich letzte Woche habe scheiden lassen. Ich bat sie, in das Scheinwerferlicht zu treten, damit ich sie genauer anschauen konnte. Es waren magere Kerlchen mit großen, vertrauensvollen Augen, alle drei unter zehn. Einen Moment lang hatte ich Gelegenheit, meine Halbbrüder zu betrachten, dann mussten wir sie in der Wüste zurücklassen. Mein Vater gab keine weitere Erklärung ab, und ich hütete mich, ihm Fragen zu stellen. Vielleicht konnte mir ja meine Mutter etwas dazu sagen.
    Auf der langen Fahrt saß ich zwischen meinem Vater und meinem Onkel und schmiegte mich an beide. Es war ein wunderbares Gefühl. Ich hatte meinen Vater, meinen Onkel und meine Brüder wieder, war zurück in meinem schönen Land. Natürlich fühlte ich mich müde und erschöpft, aber das machte mir nichts aus – Vorrang hier hatten andere Dinge. Ständig dachte ich darüber nach, wie sich doch das Leben in New York, wo es Essen und alles im Überfluss gibt, von dem Leben, das meine Familie in Somalia führt, unterscheidet. Die meisten Menschen im Westen besitzen so viel, dass sie nicht einmal wissen, was sie alles haben. Meine Eltern konnten ihren Besitz wahrscheinlich an den Fingern ihrer Hände abzählen, um Essen mussten sie täglich kämpfen, und trotzdem waren sie freundlich und zufrieden. Die Menschen auf der Straße lächelten und redeten miteinander. Ich glaube, die Leute im Westen versuchen ständig zu kompensieren, was ihnen fehlt. Alle sind auf der Suche. Sie suchen in den Geschäften, bei der Arbeit, im Fernsehen. Bekannte haben mir ein komplettes Zimmer in ihrem Haus gezeigt, in dem nur Kerzen für Gebete und Meditation stehen. Und hier mussten wir uns alle auf engstem Raum aneinander quetschen, um Platz zum Schlafen zu finden. Aber das war kein Problem, im Gegenteil, man fühlte sich wohl zusammen und jeder dankte Allah dafür. In Somalia gibt es keinen besonderen Ort, an dem man betet, wir beten sogar, wenn wir jemanden begrüßen. »Möge Allah mit dir sein«, sagen wir. In New York rufen alle nur »Hallo«. Was soll das denn heißen? Mir ist klar geworden, dass es gar nichts heißt, es ist einfach nur eine Floskel. Die Leute wünschen »Einen schönen Tag noch«, aber auch das hat keine Bedeutung. In Somalia heißt es: »Wenn Allah will, sehen wir uns wieder.« Allah
hatte
gewollt, und mein erster Tag mit meiner Familie war ein guter Tag, ein sehr guter Tag!
Die Schönheit einer Frau liegt nicht in ihrem Gesicht.
    (Somalisches Sprichwort)

9

Stammesgespräche

    Als wir endlich wieder in unserem Dorf ankamen, saß meine Mutter am Feuer, streichelte ihre Ziegen und erzählte Nhur, ihrer Tochter und Mohammed Inyer Geschichten. Als sie meine Brüder mit meinem Vater erblickte, sagte sie: »Allah! Ihr habt ihn mitgebracht? Wie geht es ihm?«
    »Frag ihn selber«, riet ich ihr. Sie trat zu ihm und sagte: »Na, wen haben wir denn hier? Hast du ein verirrtes Kamel im Busch gefunden?« Dann berührte sie sanft mit den Fingerspitzen den Kopfverband meines Vaters und fragte in ihrer humorvollen Art: »Und wie fühlst du dich da drin?« Sie bat mich, mit ihr zu kommen, um ihm ein Bett zu machen.
    »Es überrascht mich, dass dein Vater eingewilligt hat, herzukommen«, gestand meine Mutter mir, als wir allein waren.
    »Warum? Glaubst du, es macht ihm etwas aus, dass du ihn so siehst?«
    »Nein. Aber, Waris, Burhaan hat nie den Brautpreis für Nhur bezahlt«, flüsterte sie mir ins Ohr. »Dein Vater stellt immer in Aussicht, er würde ihn entrichten, sobald er das Geld habe. Jetzt ist sie schon seit zwei Jahren mit Burhaan verheiratet und erwartet ihr zweites Kind. Ihre Angehörigen beschweren sich bereits.«
    »Oh! Sie ist so süß, ich liebe sie richtig.«
    »Sie sorgt gut für Burhaan und mich. Ihr Vater macht sich Sorgen, was mit ihr passiert, wenn Burhaan sie verstößt, und jetzt verlangen sie energisch den Preis. Dein Vater hat Burhaan versprochen, ihm ein paar Kamele für sie zu geben; aber stattdessen ging er hin und hat einem Cousin mitgeteilt, sie sei keine fünf Kamele wert. Er sagte, sie

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