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NOVA Science Fiction Magazin 20

NOVA Science Fiction Magazin 20

Titel: NOVA Science Fiction Magazin 20 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Olaf G. Hilscher
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das Ufer säumten. Nachdem sich deren
erste Verwirrung über das neu gewonnene Bewusstsein gelegt hatte, begann sie in
baumtypischer Gemächlichkeit die Umgebung zu bestaunen, ohne dem Mädchen am
Flussufer Beachtung zu schenken.
    Ninive
verzog die Mundwinkel. Das wahrlich Frustrierende an der Gabe der Wandler war
die Undankbarkeit der Beseelten; die traurige Erkenntnis, dass frisch beseelte
Materie in dem Moment, in dem sie zu Bewusstsein kam, nichts für ihre Schöpfer
übrig hatte. Zwar begriffen die meisten Tiere, Pflanzen und Dinge, was mit
ihnen geschehen war, doch sie vermochten nicht zu erkennen, wem oder was sie
dies zu verdanken hatten. Während die meisten Beseelten anfangs einfach nur
verwundert, eingeschüchtert oder verwirrt waren, reagierten manche äußerst ungehalten,
ja fast schon wütend angesichts ihres neuen Daseinszustandes. Andere hingegen
waren dermaßen entsetzt, dass sie schreiend Reißaus nahmen oder sofort tot
umfielen. Im Laufe der Jahrhunderte hatte Ninive gelernt, was bedenkenlos
beseelt werden konnte und wovon sie besser die Finger ließ.
    Zu
den umgänglichen Gewächsen zählten Kranpappeln, denn sie verfügten über eine
friedliebende, wenn auch etwas zu harmoniebedürftige Natur. Allerdings hatten
sie ein Problem damit, etwas in ihrem näheren Umfeld wahrzunehmen, das sich mit
ihnen nicht auf Augenhöhe befand. Am liebsten starrten Bäume beim Umherlaufen
in den Himmel und achteten nur selten darauf, was unter ihnen geschah. Manchmal
kam es daher vor, dass ein unvorsichtiger Wandler just von jenem Baum, den er
Augenblicke zuvor beseelt hatte, zertrampelt wurde, als dieser mit seinen
Wurzeln über ihn hinweg schritt. Um zu vermeiden, dass ihr das gleiche
Schicksal widerfuhr, begann sie an der Pappel empor zu klettern, bevor sie ihre
Wurzeln aus dem Erdreich gezogen hatte.
    „Hinüber!“,
befahl sie, als sie die Baumkrone erreicht hatte. „Auf die andere Seite.“
    Die
Pappel blieb am Ufer stehen, die Wurzelspitzen ins Wasser getaucht, und glotzte
in den Fluss. Offenbar irritierte sie die schimmernde, sich bewegende Oberfläche.
Schließlich trat sie zaghaft hinein. Ein Baum ihrer Größe benötigte höchstens
vier Schritte, bis er das gegenüberliegende Ufer erreicht hatte – doch so weit
kam sie nicht. Ihre Bewegung stoppte so plötzlich, dass Ninive fast aus der
Baumkrone geschleudert wurde. Mehrere Wassertentakel waren aus Flodd gewachsen
und hatten sich um ihre Wurzeln umschlungen. Die Pappel bog sich hin und her,
um sich aus der Umklammerung zu befreien, dann senkte sie ihre Krone und
starrte ins Wasser, um herauszufinden, was sie festhielt.
    „Zieh
deine Dreckswurzeln aus mir raus!“, schnauzte Flodd ihn an, wobei seine gesamte
Oberfläche in weitem Umkreis vibrierte. „Ich bin kein Waschknecht! Raus, zack,
zack!“
    „Wirf
mich!“, befahl Ninive, als die eingeschüchterte Pappel Anstalten unternahm,
rückwärts zu laufen. „Wirf mich rüber, schnell!“
    Während
sie den Atem anhielt und sich an eine Astgabel klammerte, bog der Baum seine
Krone zurück. Für einen Lidschlag wurde Ninive wie von einer riesigen Schleuder
durch die Luft katapultiert. Land und Himmel wirbelten vor ihren Augen, dann
schlug sie am anderen Ufer auf, rollte sich blitzartig zusammen, um die Wucht
des Sturzes abzufangen, und schlitterte schließlich meterweit durchs Gras. Als
die Bewegung endete, öffnete sie die Augen, starrte in den Himmel, atmete tief
durch und murmelte schon beinahe flehend: „Warum tust du dir das eigentlich
seit dreihundert Jahren an, Ivi ...?“
    Nachdem
sie ihren ramponierten Mantel begutachtet und die wenigen Blessuren versorgt
hatte, marschierte sie zurück bis der Stelle, an der die Schleifspur des
Genetrix-Tieres wieder aus dem Fluss führte. Dabei hielt sie gebührendem
Abstand zum Ufer, um Flodd nicht noch mehr zu provozieren. Schließlich musste
sie ihn ein weiteres Mal überqueren, um wieder nach Hause zu gelangen. Die
nächste Überraschung erwartete sie, nachdem sie den Furchen im Boden ein paar
hundert Meter weit bis zum Fuß des Bergrückens gefolgt war, auf deren höchster
Kuppe die Kollek-toren ihren Frondienst verrichteten: Von einem Moment zum anderen
endete die Schleifspur, als hätte das Metallungetüm sich in Luft aufgelöst.
Irritiert sah Ninive sich um. Der plumpe Koloss konnte unmöglich fähig sein,
sich in die Luft zu erheben und zu fliegen. Argwöhnisch blickte sie in den
Wolkendunst. Hatte ihn etwas vom Boden gepflückt; etwas, das lautlos

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