Oben ist es still - Bakker, G: Oben ist es still
vernarbt.
Halb im Tran stehe ich bei den Schafen. Es tut sich nicht viel. Die beiden Lämmer trinken bei ihrer Mutter, die übrigen Schafe liegen friedlich wiederkäuend auf der Streu. Es gibt hier nichts weiter zu tun; ich kann alles, was passieren kann oder wird – was auch immer das sein mag –, noch ein bißchen aufschieben, indem ich mich in der Gewöhnungsbox auf den Boden setze und mit dem Rücken an die Hürde lehne. Sitzen ist bequemer als Stehen. Ein Stall voller Schafe im Frühling ist so etwas wie ein Stall voller Kühe im Winter. So darf ichnicht mehr denken, ermahne ich mich. So will ich nicht mehr denken. Henk hat mich aus dem Graben geholt, es hat sich etwas verändert. Die Ver-Hält-Nisse, denke ich mit meinem besoffenen Kopf. Ich überlege, ob es irgendeine Art Ausgleich geben muß, wenn einem jemand das Leben gerettet hat. Eins der Lämmer kommt auf mich zu, die Mutter stampft mit dem Vorderbein. Im Stall sind Schafe nicht so jämmerlich wie auf der Weide. Als ich wieder gehe, lasse ich das Licht brennen.
In der Waschküche ziehe ich mich aus und werfe meine Sachen in den Waschkorb. Fernsehgeräusche kommen aus dem Wohnzimmer. Ich gehe ins Bad und drehe die Hähne auf. Zuerst wasche ich mir die Haare, mit Henks Shampoo. Als ich die Flasche auf die Ablage unterm Spiegel zurückstelle, geht die Tür auf. Er kommt herein und macht die Tür hinter sich zu.
»Was machst du?« frage ich und wische mir den Schaum aus den Augen.
»Ich will unter die Dusche«, sagt er.
»Du siehst doch wohl, daß ich hier stehe?«
»Ja«, sagt er. Er zieht sein T-Shirt aus. »Benutzt du mein Shampoo?«
»Ja.«
»Macht nichts.«
»Geh raus, Henk«, sage ich.
»Wieso?«
»Weil ich es sage.«
»Ha!« macht er.
»Wer hat hier das Sagen?«
Er steht mir gegenüber, sein T-Shirt locker in der rechten Hand. Er schaut mich verdutzt an. »Was ist denn jetzt los?«
»Wer hat hier das Sagen?« wiederhole ich. Meineingeschäumter Schädel fängt an zu jucken, es rauscht in meinem Kopf. Jetzt bin ich mein Vater. Ich empfinde keine Scham, ich habe nicht den Drang, meine Nacktheit zu verbergen. Henk starrt mich immer noch an, ich kann ihn nachdenken sehen, nach einer Antwort suchen. Aber er hat keinen Mitstreiter, hinter mir steht niemand.
»Du hast das Sagen«, sagt er dann. Bevor er aus dem Badezimmer verschwindet, zieht er in Ruhe sein T-Shirt wieder an.
Als ich aus dem Bad komme, brennt überall Licht. In der Küche plappert das Radio, im Wohnzimmer dröhnt Musik aus dem Fernseher. Von Henk keine Spur. Ich mache eine Runde durchs Haus und schalte alle Lampen, das Radio und den Fernseher aus. Zum Schluß drehe ich den Ofen auf die niedrigste Stufe und gehe ins Schlafzimmer. Ich mache Licht und stelle mich vor die Dänemarkkarte. »Skanderborg«, sage ich leise. Meistens folgen auf den ersten Namen noch drei oder vier, aber heute nicht. Ich lege mich in das riesige Bett und schließe die Augen. Kurz danach höre ich am Geräusch eines Dynamos, daß ein Radfahrer vorbeikommt. Dann wird es sehr still.
Ich wache auf, weil jemand in mein Bett kriecht, dann hin und her rutscht und seufzt. Der Bezug des zweiten Kissens knistert. Er hat kein Licht gemacht. Ich warte ab.
»Ich will nicht mehr in dem kleinen Zimmer schlafen«, sagt er. »Es ist kalt und deprimierend da drin.«
Ich weiß. Es ist kalt und deprimierend da drin. Und leer.
Er liegt ganz still, ich höre ihn nicht einmal atmen.
»Dein Vater hat nichts gegessen«, sagt er nach einer Weile.
Ich räuspere mich. »Er will nichts mehr essen.«
»Will er sterben?«
»Ja.«
»Ich nicht«, sagt er und seufzt zufrieden. Dann dreht er sich auf die Seite. Es ist zu dunkel, um zu sehen, auf welche.
Ich habe schon etwas gesagt. Ich habe ihm geantwortet. Jetzt ist es zu spät, um ihn wegzuschicken. Vielleicht ist dies ja eine Gegenleistung fürs Lebenretten.
45
Ich sitze auf dem Bettrand und schaue Henk an. Er liegt auf dem Rücken, er trägt dasselbe T-Shirt, das er auch gestern anhatte. Seine Brust hebt und senkt sich gleichmäßig; wenn er ausatmet, schnauft er leise. Er liegt in meinem Bett, als hätte er nie woanders gelegen. Das ärgert mich. Ich stehe auf und ziehe meine Arbeitshose an. »Willst du vielleicht auch etwas tun?« frage ich laut. Aufwachen, Henk bringe ich nicht über die Lippen.
Er stöhnt ein bißchen und dreht sich behaglich auf den Bauch. »Oh, ja klar«, spricht er ins Kissen. »Aber jetzt noch nicht.«
»Es ist halb sechs«, sage ich.
Es
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