Offenbarung
schmuddelig. Wenn sie es mit der überlegenen Vernunft ihrer
siebzehn Jahre betrachtete, konnte sie nicht sagen, was für ein
Tier das Ding eigentlich darstellen sollte. Aber sie wusste noch,
dass sie es damals am Stand sofort als Schwein erkannt hatte. Wobei
es keine Rolle spielte, dass niemand auf Hela jemals ein lebendes
Schwein gesehen hatte.
»Auch du musst hier bleiben«, flüsterte sie.
Sie knetete das Stofftier so lange, bis es wie ein Wächter
auf dem Buch sitzen blieb. Es war nicht so, dass sie es nicht
dabeihaben wollte. Es war zwar nur ein Spielzeug, aber in den
kommenden Tagen würde sie sicher oft schreckliches Heimweh haben
und um alles froh sein, was sie an die Geborgenheit ihres Dorfes
erinnerte. Aber das Notepad war nützlicher, und
Sentimentalitäten konnte sie sich jetzt nicht leisten. Sie schob
den schwarzen Klotz in die Reisetasche, zog den vakuumdichten
Verschluss zu und verließ auf leisen Sohlen ihr Zimmer.
Das letzte Mal war eine Karawane in erreichbare Nähe ihres
Dorfes gekommen, als Rachmika vierzehn Jahre alt gewesen war. Damals
ging sie noch zur Schule, und man hatte ihr nicht erlaubt, mit zum
Treffpunkt zu fahren. Beim vorletzten Mal war sie neun gewesen:
Damals hatte sie die Karawanen zwar gesehen, aber nur kurz und nur
von ferne. Und so waren ihre Erinnerungen an das Spektakel
unwiderruflich gefärbt vom Schicksal ihres Bruders. Dieses
Geschehen hatte sie im Geiste so oft vor sich ablaufen lassen, dass
sie Fakten und eigene Ausschmückungen nicht mehr voneinander zu
trennen vermochte.
Acht Jahre, dachte sie. Das Zehntel eines Menschenlebens
in dieser harten neuen Zeit. Ein Zehntel, das war nicht wenig,
auch wenn diese acht Jahre früher nur ein Zwanzigstel oder gar
ein Dreißigstel der geschätzten Lebenserwartung ausgemacht
hätten. Doch vom Gefühl her waren diese acht Jahre noch
sehr viel mehr. Schließlich entsprachen sie der Hälfte
ihres Lebens. Die Zeit bis zum Eintreffen der nächsten Karawanen
war ihr wie eine Ewigkeit erschienen. Beim letzten Mal war sie noch
ein kleines Mädchen gewesen; ein kleines Mädchen aus dem
Ödland von Vigrid, das den sonderbaren Ruf hatte, immer die
Wahrheit zu sagen.
Doch jetzt war es wieder so weit. Kurz vor dem hundertsten Tag der
einhundertzweiundzwanzigsten Weltumrundung war eine der Karawanen
östlich des Hauk-Übergangs unerwartet vom Kurs abgewichen
und nach Norden in die Gaudi-Ebene abgebogen, um sich dort mit einer
zweiten Karawane zu vereinigen, die sich gerade südwärts
auf die Glum-Kreuzung zubewegte. So etwas kam nicht oft vor: In fast
drei Kreisläufen war es das erste Mal, dass die Karawanen nur
noch eine Tagesreise von den Dörfern an den Südhängen
des Ödlands von Vigrid entfernt waren. Die Aufregung war
natürlich groß. Man feierte rauschende Feste, stellte
Jubelkomitees zusammen und betrank sich in verbotenen Kneipen.
Romantische Stelldicheins, riskante Flirts und heimliche
Liebesaffären waren an der Tagesordnung. In neun Monaten war mit
einer ganzen Schar von schreienden Karawanenbabys zu rechnen.
Im sonst so entbehrungsreichen Dasein auf Hela und besonders im
Ödland regten sich zaghafte Hoffnungen, denn in solchen Perioden
bestand für den Einzelnen die Möglichkeit, seine
persönlichen Lebensumstände – wenn auch nach strengen
Vorgaben – zu verändern. Die bodenständigen
Dorfbewohner ließen von ihrer Erregung nichts nach außen
dringen, aber insgeheim träumten sie doch von der großen
Schicksalswende. Mit viel Fantasie erfand man Vorwände für
eine Reise zum Treffpunkt, wobei natürlich niemand seinen
persönlichen Vorteil im Auge hatte, sondern immer nur das
Wohlergehen des ganzen Dorfes. So schickte im Laufe von fast drei
Wochen jedes Dorf eine eigene kleine Karawane auf die Reise über
das gefährliche, eisverkrustete Gelände zu der großen
Prozession hinaus.
Rachmika wollte das Haus im Morgengrauen verlassen, wenn ihre
Eltern noch schliefen. Sie hatte sie nur deshalb nicht belogen, weil
es nicht nötig gewesen war. Die Erwachsenen und die anderen
Kinder im Dorf hatten nie verstanden, dass sie nicht weniger gut
lügen konnte als jeder andere. Sie konnte sogar sehr
überzeugend sein. Sie hatte nur aus einem einzigen Grund fast
ihre ganze Kindheit über nie gelogen, weil sie nämlich bis
vor kurzem nicht eingesehen hatte, wozu das gut sein sollte.
Sie schlich auf Zehenspitzen durch die verwinkelten, dunklen Flure
und sprang in langen Sätzen über die Lichtinseln unter den
Deckenfenstern. Die
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