Oksa Pollock. Der Treubrüchige
liebte, so viel Leid zugefügt. Er war eigentlich tot gewesen, und doch schien er heute stärker denn je zu sein. Als hätte die physische Verwandlung, die er nach der Crucimaphilla-Attacke durchlaufen hatte, ihn noch mächtiger gemacht. Sein schwarzer Pullover und die anthrazitfarbene Hose verliehen seiner Erscheinung etwas Gediegenes, ohne jedoch die furchterregende Kraft zu kaschieren, die er ausstrahlte. Mit zusammengekniffenen Augen musterte er die Gruppe um Dragomira. Dann richtete sich seine volle Aufmerksamkeit auf Oksa. Die Junge Huldvolle fühlte sich plötzlich in die Vergangenheit zurückversetzt. Sie spürte dieselbe tiefe, unerträgliche Qual wie an ihrem ersten Schultag in London vor mehr als einem Jahr, bei der ersten, verstörenden Begegnung mit dem Treubrüchigen alias ihrem Mathelehrer McGraw. Die Erinnerung traf sie wie ein Faustschlag in die Magengrube. Orthon wirkte so unüberwindlich. Oksa kämpfte gegen ihre Panik an, unterstützt von ihrem Ringelpupo, das ohne Unterlass an ihrem Handgelenk pulsierte. Abakum, der direkt hinter ihr stand, legte ihr beschützend die Hände auf die Schultern. Als sie sah, dass ein kaum merkliches Zaudern wie ein Schatten über Orthons Gesicht glitt, spürte sie neue Kraft und Zuversicht in sich aufkeimen. Trotz all seiner düsteren Macht fürchtete der Treubrüchige den Feenmann, das war offensichtlich.
Ein paar Sekunden wandte Orthon den Blick von ihr ab, um seine Zwillingsschwester ins Visier zu nehmen.
»Meine wunderschöne Schwester«, murmelte er.
Niemand hätte sagen können, ob sein Tonfall traurig oder ironisch war. Ein wenig von beidem vielleicht.
»Du hast also dein Lager gewählt«, fuhr er fort.
»Ich habe nie eine Wahl treffen müssen«, entgegnete Remineszens mit bewundernswert ruhiger Stimme. »Ich folge meinem Herzen, nicht meinem Blut.«
Die Antwort schien Orthon einen Moment aus der Fassung zu bringen.
»Aber warum sträubt ihr euch nur alle so hartnäckig gegen die Bande, die uns einen?«, fragte er provozierend. »Die Genetik ist doch eine über jeden Zweifel erhabene Wissenschaft …«
»… aber wenn es darum geht, was Menschen zusammenschweißt, kann man sie getrost vergessen!«, unterbrach ihn Remineszens.
Orthon bedachte sie mit einem bösen Blick, bevor er sich in dem großen Ledersessel in der Mitte des Raumes niederließ.
»Du scheinst ja in Höchstform zu sein, liebe Schwester!«
»Dazu hast du jedenfalls nichts beigetragen!«, schleuderte ihm Remineszens entgegen und zog die Zipfel ihrer langen Strickjacke fester um sich.
Orthon schnitt eine Grimasse.
»Ach, stimmt, das hatte ich fast vergessen. Deine Anwesenheit hier haben wir ja deinem ehemals ständigen Begleiter, dem außergewöhnlichen und untadeligen Leomido zu verdanken! Wobei ich mich schon die ganze Zeit frage, wo er nur steckt. Fürchtet er sich vielleicht davor, seinem Halbbruder zu begegnen? Oder schämt er sich gar dafür, dass wir miteinander verwandt sind?«
Die Rette-sich-wer-kann wurden blass. Entgegen ihrer Erwartung schien Orthon nichts von Leomidos Tod zu wissen. Seine Frage im Haus am Bigtoe Square, als er sich Zeldas Körper bemächtigt hatte, um bei ihnen aufzutauchen, war somit keine Provokation gewesen. Orthon wollte tatsächlich nur wissen, was seinem Halbbruder zugestoßen war. Oksa hielt den Atem an. Wie würde er wohl auf die Nachricht reagieren?
»Mir war schon immer klar, dass er die Wahrheit nicht ertragen kann«, fuhr Orthon halblaut fort. »Was für eine Enttäuschung. Und dabei wurde er all die Jahre immer als das große Vorbild hingestellt! Und heute verkriecht er sich wie eine Ratte, anstatt sich den Tatsachen zu stellen! Wie enttäuschend! Wie überaus enttäuschend …«
»Leomido ist tot!«, schnitt ihm Remineszens mit zornbebender Stimme das Wort ab.
Diese Eröffnung traf Orthon wie ein Peitschenhieb: Vor aller Augen verwandelte sich sein Gesicht. Seine Augen weiteten sich und füllten sich mit Tränen, während seine Züge sich verkrampften. Seine Finger krallten sich in die Armlehnen des Sessels, bis man die Knöchel knacken hörte. Dass die Beziehung zu seinem verfeindeten Bruder nun ein solch abruptes Ende genommen haben sollte – an eine solche Möglichkeit schien er überhaupt nicht gedacht zu haben.
»Wie ist das passiert?«, fragte er mit rauer Stimme.
»Das Geheimnis lastete zu schwer auf ihm«, sagte Remineszens leise. »Deshalb zog er es vor, seinem Leben ein Ende zu machen. Das Herz-Erforsch hat ihn
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