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Oktoberplatz oder meine großen dunklen Pferde - Roman

Oktoberplatz oder meine großen dunklen Pferde - Roman

Titel: Oktoberplatz oder meine großen dunklen Pferde - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klöpfer&Meyer GmbH & Co.KG
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Kinder.«
    »Gratuliere.«
    »Zwei, ein Mädchen und ein Junge.«
    »Tadellose Arbeit, Gábor.«
    Ich ahnte es: Nirgendwo sonst sind die Lebensentwürfe, die in den Kitsch flüchten, so zahlreich wie in den Hauptstädten.
    »Hör mal, ich müßte für einige Zeit in Budapest unterkriechen. Mit meiner neuen Freundin. Klärchens Haus ist doch groß genug für – gibt es eigentlich eine Frau zu den Kindern?«
    »Du kommst hierher? Wann?«
    »Übermorgen.«
    »Übermorgen. Ach du Scheiße! Echt jetzt, Waschi, das ist ein bißchen kurzfristig. Am Neujahrstag sind wir immer bei meinen Schwiegereltern.«
    »Ist ok, einen oder zwei Tage können wir ins Hotel. Gibt es noch die Spelunke, in der du gearbeitet hast?«
    »Hm, weißt du, Alter, wir wollten wegfahren für ein paar Tage. Bis Dreikönig.«
    »Na bestens, da stören wir euch nicht.«
    Ich hörte, wie sich Gábor lautstark über die Bartstoppeln kratzte.
    »Ich müßte erst meine Frau fragen.«
    »Gábor, ich würde dich nicht anrufen, wenn es nicht wichtig wäre. Es ist aber wichtig. Superwichtig. Von weltbewegenderWichtigkeit. Quasi eine Invasion von Außerirdischen in meinem Heimatland.«
    Ich hörte tiefes Einatmen, er zischte etwas nach hinten, zwei Silben, einen Kindernamen, Sásá.
    »Na, jetzt komm erst mal, Alter, dann sehen wir weiter.« Ich legte auf. Mehr war nicht zu wollen. Nicht unter diesen Umständen. Nicht jetzt, nicht heute, nicht hier.
    Seit gestern hatte ich nichts mehr gegessen. Ich ging in einen Bäckerladen, einen Kaffeeausschank nach westlichem Vorbild. Rechts und links eingerahmt von Sträuchern, in denen Vögel tobten. Ich kaufte zwei Bubliki, aß sie vor dem Laden. Dazu trank ich aus einem Plastikbecher schwarzen Kaffee, der nach Seife schmeckte. Die Winterschwalben hörten wie zu einer verabredeten Zeit auf zu toben. Die Stille um mich her kam so unerwartet und war so vollkommen, daß die Vorübergehenden mich mißtrauisch musterten.
    Ich rief in Tanjas Wohnung an. Es klingelte durch. Dreißigmal. Schließlich wurde die Leitung unterbrochen. Ich schaltete das Handy ab, dachte daran, daß sie mich vielleicht zu orten versuchten. Mit der Metro fuhr ich zu Tatsianas Haus. Klingelte. Ich hatte nicht ernsthaft damit gerechnet, daß mir jemand öffnen würde. Ich hatte auch keine Idee, was ich tun würde, wenn Lesja und Manja auftauchten. Ich rechnete wohl nicht mehr damit. Auch nicht mehr damit, dem, was mir bevorstand, noch entkommen zu können. Ich wollte Marya wiedersehen, sie sehen, das war alles. Sie aus den Fängen von Baba Jaga zu befreien, daran verzweifelte ich.
    Es wurde Abend. Um mich her quietschten die Zentralverriegelungen, der Hund bellte. Ich sah hinauf zu den Fenstern. Wären sie da, müßte jetzt das Licht angehen. Oder sie würden die Rolläden runterlassen.
    Wieder ließ ich es in der Wohnung klingeln, dann probierte ich es auch zuhause. Den ganzen Tag über kein Anruf von Marya, keine Nachricht auf der Mailbox. Um 22 Uhr gab ich auf, wie lang ein Tag sein kann!, und fuhr mit der Moskauer Linie bis zur Station Oktoberplatz. An der Akademija Nawuk stiegen eine Blonde und ein Mädchen mit dunklen Haaren ein. Haaren, die aussahen, als hätte sie sie soeben frisch gewaschen. Sie standen am anderen Ende des Wagens, hielten mir den Rücken zugewandt. Ich schlich mich näher. Kurz bevor ich aussteigen mußte, drehten sie sich zu mir um.
    Auf dem Weg zum Hotel verfolgte ich jede zweite Brünette wenigstens fünfzig Schritte weit.
    Ich kam abgehetzt an, versuchte es mit einem letzten Anruf, bevor ich das Handy endgültig abstellen würde. Dann fielen mir Vor- und Vatersname von einer ein, bei der Alezja ein paarmal geschlafen hatte, wenn sie in Minsk war und nicht bei mir übernachten wollte, weil wir uns gestritten hatten. Oder gar keine Worte zwischen uns gefallen waren. Tamara Iwanauna. Den Namen gab es in Minsk ungefähr fünfzigtausendmal. Ich sehnte einen Nachnamen herbei, aber ich war mir sicher, daß Alezja ihn nie erwähnt hatte.
    Ich schlief in den Kleidern auf dem Bett ein. Ein Traum schenkte mir den Nachnamen. Aber als ich um vier Uhr früh davon erwachte, daß sich der Reißverschluß des Pullovers in meine rechte Wange gebohrt hatte, verschwand auch der Name wieder.
    Ich drehte mich auf die andere Seite und ließ ihn ziehen.

Brest. Bahnhof
    Der Bahnhof Brest. Unterteilt in einen westlichen und einen östlichen Sektor, treffen auf seinen gewaltigen Gleisanlagen die westeuropäische Spurweite von 1435 mm und die

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