Olympos
wissen, ob Daeman aufgebrochen ist, um seine Mutter zu holen«, sagte Petyr. Der junge Mann schien sich u n wohl zu fühlen, wenn ein längeres Schweigen eintrat.
»Ich wünschte, er hätte auf mich gewartet«, sagte Harman. » O der zumindest, bis es am anderen Ende Tag ist. Paris-Krater ist heutzutage nicht sehr sicher.«
Noman grunzte. »Von euch allen scheint Daeman erstaunl i cherweise am besten auf sich aufpassen zu können. Er hat dich überrascht, nicht wahr, Harman?«
»Eigentlich nicht«, sagte Harman und merkte sofort, dass das nicht stimmte. Bei seiner ersten Begegnung mit Daeman vor nicht einmal einem Jahr hatte er ein weinerliches, pummeliges Mutte r söhnchen vor sich gesehen, dessen einzige Hobbys die Schmette r lingsjagd und die Verführung junger Frauen waren. Harman glaubte sogar, dass Daeman vor zehn Monaten nach Ardis Hall gekommen war, um seine Cousine Ada zu verfü h ren. Bei ihren ersten Abenteuern war Daeman ein furchtsamer Nörgler gewesen. Aber Harman musste sich eingestehen, dass die Ereignisse den jüngeren Mann verändert hatten, und zwar weitaus stärker zum Besseren als ihn selbst. Es war ein halb verhungerter, aber en t schlossener Daeman gewesen – vierzig Pfund leichter, aber u n endlich viel energischer –, der sich in der Beinahe-Schwerelosigkeit von Prosperos orbitaler Insel auf einen Zwe i kampf mit Caliban eingelassen hatte. Und es war Daeman gew e sen, der Harman und Hannah lebendig herausg e holt hatte. Seit dem Absturz war Daeman viel ruhiger und ern s ter, und er legte großen Wert darauf, jede Kampf- und Überlebenstechnik zu e r lernen, die Odysseus ihnen beibringen wollte.
Harman war ein bisschen neidisch. Er hatte sich für den natürl i chen Anführer der Ardis-Gruppe gehalten – älter und klüger, noch vor neun Monaten der einzige Mensch auf der Erde, der l e sen konnte oder wollte, der einzige Mensch auf der Erde, der d a mals gewusst hatte, dass die Erde rund war –, aber jetzt musste er zugeben, dass das Martyrium, aus dem Daeman gestärkt hervo r gegangen war, ihn sowohl körperlich als auch geistig geschwächt hatte. Liegt es an meinem Alter? Körperlich wirkte Harman wie ein gesunder Enddreißiger, so wie jeder Mann vor dem Absturz, der seinen Vierten Zwanziger hinter sich hatte. Die blauen Würmer und brodelnden Chemikalien in den Tanks der Klinik dort oben hatten ihn während seiner er s ten vier Besuche in ausreichendem Maße erneuert. Aber psychisch? Ha r man hatte Grund zur Sorge. Vielleicht war ein alter Mensch alt, ganz egal, wie geschickt sein Körper restauriert wurde. Dazu kam, dass Harman noch immer hinkte; das lag an den Beinverletzungen, die er vor acht Monaten oben auf Pro s peros höllischer Insel erlitten hatte. Nun wartete kein Klini k tank mehr, um den Schaden zu beheben, und es kamen auch keine Servit o ren mehr herbeigeschwebt, um das Resultat jedes kleinen, leichtsinnigen Unfalls zu verbinden und zu heilen. Harman wusste, dass sein Bein nie mehr ganz gesund werden würde, dass er bis zu seinem Tod hinken würde – und dieser G e danke verstärkte seine seltsame Traurigkeit an diesem Tag.
Schweigend stapften sie weiter durch den Wald. Jeder von ihnen hatte den Eindruck, dass die anderen in ihren eigenen Gedanken versunken waren. Harman übernahm es, den Oc h sen am Halfter zu führen. Das dumme Tier wurde mit zune h mender Dunkelheit immer störrischer und eigensinniger. Es brauc h te nur einmal in die falsche Richtung zu taumeln, sodass der Karren gegen einen dieser Bäume prallte, dann würden sie entweder die ganze Nacht draußen bleiben und das gottve r dammte Ding reparieren oder es einfach hier zurücklassen und den Ochsen so heimführen müssen – beides keine sonderlich reizvollen Alternativen.
Er warf einen raschen Blick auf Odysseus-Noman, der gemäc h lich dahinschlenderte und seine Schritte verkürzte, um sein Te m po dem langsamen Ochsen und dem hinkenden Harman anz u passen, dann schaute er zu Hannah hinüber, die sehnsüchtig N o man ansah, und zu Petyr, der sehnsüchtig Ha n nah ansah, und er hätte sich am liebsten auf den kalten Boden gesetzt und um die Welt geweint, die zu sehr mit dem Überl e ben beschäftigt war, um zu weinen. Er dachte an das unglaubl i che Stück, das er gerade gelesen hatte – Romeo und Julia –, und fragte sich, ob manche To r heiten und andere Dinge nicht zur Grundausstattung des mensc h lichen Wesens gehörten, auch nach fast zwei Jahrtausenden so g e nannter Evolution durch
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