Olympos
Nanotechnik und Genmanipulation.
Vielleicht hätte ich nicht zulassen dürfen, dass Ada schwanger wu r de. Dieser Gedanke quälte Harman am meisten.
Sie hatte sich ein Kind gewünscht. Er hatte sich ein Kind g e wünscht. Mehr als das, und beispiellos nach all diesen Jahrhu n derten: Sie hatten sich beide eine Familie gewünscht – dass der Mann bei Frau und Kind blieb und das Kind von ihnen und nicht von Servitoren aufgezogen wurde. Zwar kannten sämtliche Al t menschen aus der Zeit vor dem Absturz ihre Mütter, aber so gut wie keiner von ihnen hatte gewusst – oder wissen wollen –, wer sein oder ihr Vater war. In einer Welt, in der die Männer bis zu ihrem fünften und letzten Zwanziger jung und vital blieben, in einer kleinen Bevölkerung – weniger als dreihunderttausend Menschen weltweit, hatte Savi gesagt – und einer Kultur, die aus wenig mehr als Partys und kurzen sexue l len Affären bestand und in der jugendliche Schönheit mehr galt als alles andere, war es fast sicher, dass viele Väter sich ahnungslos mit ihren Töchtern paa r ten.
Das machte Harman zu schaffen, nachdem er sich das Lesen beigebracht und erste Einblicke in frühere Kulturen und längst untergegangene Wertvorstellungen erhalten hatte – zu spät, zu spät –, doch außer ihm hätte sich noch vor neun Monaten ni e mand am Inzest gestört. Dieselben gentechnisch erzeugten N a nosensoren im Körper einer Frau, dank deren sie noch Monate oder Jahre nach dem Verkehr aus sorgsam gespeicherten Spe r mienpaketen wählen konnte, hätten es ihr niemals erlaubt, e i nen ihrer nächsten Angehörigen als Fortpflanzungspartner zu wählen. Das konnte einfach nicht passieren. Die Nanoprogrammierung war narrens i cher, selbst wenn die sich pa a renden Menschen Narren waren.
Aber jetzt ist alles anders, dachte Harman. Sie würden Familien brauchen, um zu überleben – nicht nur, um die Voynix-Angriffe und Entbehrungen nach dem Absturz zu überstehen, sondern auch zur Vorbereitung auf den Krieg, der ihnen Ody s seus zufolge bevorstand. Der alte Grieche wollte sich nicht we i ter zu seiner Prophezeiung in der Nacht des Absturzes äußern, aber damals hatte er behauptet, es werde einen großen Krieg geben – einige vermuteten, dass dieser Krieg etwas mit der B e lagerung Trojas zu tun haben könnte, die sie alle unter ihren Turin-Tüchern aus zwe i ter Hand miterlebt hatten, bevor die darin eingearbeiteten Mikr o schaltkreise ebenfalls ausgefallen waren. »In deinem Garten we r den neue Welten erscheinen«, hatte er Ada erklärt.
Als sie auf die letzte ausgedehnte Wiese vor dem letzten schm a len Waldstück herauskamen, merkte Harman, dass er müde und voller Furcht war. Er hatte es satt, immer entsche i den zu müssen, was richtig war – wer war er, dass er die Klinik zerstört und w o möglich Prospero befreit hatte und nun pause n los Vorträge über Familien und die Notwendigkeit hielt, sich in Schutzgruppen zu organisieren? Was wusste er schon – der neunundneunzig Jahre alte Harman, der fast sein ganzes Leben in Unwissenheit verge u det hatte?
Und er fürchtete sich nicht so sehr vor dem Tod – obwohl sie a l le zum ersten Mal seit anderthalb Jahrtausenden menschlicher Erfahrung diese Furcht teilten –, sondern vor eben jener Veränd e rung, die er selbst mit ausgelöst hatte. Und vor der Verantwo r tung.
War es richtig von uns, Ada jetzt schwanger werden zu lassen? Sie waren beide zu dem Schluss gelangt, dass es in dieser neuen Welt – selbst inmitten der Entbehrungen und Ungewissheiten – sin n voller war, eine Familie zu gründen, obwohl »eine Familie grü n den« ein seltsamer Ausdruck war, weil es ihnen schon große M ü he bereitete, überhaupt nur an mehr als ein Kind zu denken. Wä h rend der anderthalb Jahrtausende währenden Herrschaft der a b wesenden Nachmenschen hatte jede Altmenschenfrau nur ein einziges Kind bekommen dürfen. Die Erkenntnis, dass sie mehr e re Kinder haben konnten, wenn sie es wollten und wenn ihre Bi o logie mitspielte, hatte Ada und Harman in geradezu schwindele r regende Verwirrung gestürzt. Es gab keine Warteliste mehr, keine Notwendigkeit, die von den Servitoren signalisierte Zustimmung der Nachmenschen einzuholen. Andererseits wussten sie nicht, ob ein Mensch überhaupt mehr als ein Kind bekommen konnte. Wü r den ihre veränderte Genetik und die Nanoprogrammierung das zula s sen?
Sie hatten beschlossen, das Baby jetzt zu bekommen, solange Ada noch keine dreißig war, und sie dachten, sie
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