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Olympos

Titel: Olympos Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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hier über der Esplanade zu den Seiten hin offen; die Blitze zeigten ihm die nächste Treppe n flucht oder den nächsten Absatz, bevor er die Stufen hinau f lief oder einen dunklen Bereich durchquerte. Er hielt die Ar m brust erhoben und ließ den Finger knapp außerhalb des A b zugsbügels.
    Noch bevor er auf die erste Wohnebene hinaustrat, wo seine Mutter lebte, wusste er, was er finden würde.
    Die Flamme des Signalfeuers in dem Metallfass auf der zur Stadt gelegenen Terrasse war weitgehend niedergebrannt. Auf dem Bambus-Drei der Terrasse war Blut, ebenso an den Wä n den und an der Unterseite der Traufe. Die Tür des ersten D o mis, zu dem er gelangte – nicht das seiner Mutter –, stand o f fen.
    Innen überall Blut. Daeman fiel es schwer zu glauben, dass die Körper all der über hundert Mitglieder der Gemeinschaft zusa m men so viel Blut enthalten hatten. Es gab zahllose Anze i chen der Panik – hastig verbarrikadierte Türen, die dann z u sammen mit den Barrikaden zersplittert waren, blutige Fußspuren auf Terra s sen und Treppen, Fetzen von Schlafkleidung, die hier und dort gelandet waren –, aber nichts deutete darauf hin, dass jemand Widerstand geleistet hatte. Keine blutigen Pfeile oder Lanzen, die in Holzbalken steckten, weil sie ihr Ziel ve r fehlt hatten. Offenbar war niemand an eine Waffe herang e kommen oder hatte sie gar erhoben.
    Es gab keine Leichen.
    Er durchsuchte drei weitere Domis, bevor er den Mut aufbrac h te, die Wohnung seiner Mutter zu betreten. In jedem D o mi fand er verspritztes Blut, zertrümmerte Möbel, zerfetzte Kissen, herabg e rissene Wandbehänge, umgestürzte Tische, überall verstreute Fü l lungen von Polstermöbeln – Blut auf weißen Federn, Blut auf he l lem Schaumstoff –, aber keine Leichen.
    Die Tür zum Domi seiner Mutter war verschlossen. Die alten Schlösser, die man mit einem Daumenabdruck öffnen konnte, w a ren beim Absturz ausgefallen, aber Goman hatte das aut o matische Schloss durch ein simples Riegelschloss mit Türkette ersetzt, das Daeman für zu schwach gehalten hatte. Jetzt stellte sich heraus, dass seine Einschätzung zutraf. Nachdem er mehrmals leise g e klopft hatte, ohne eine Antwort zu erhalten, trat er dreimal kräftig zu, und die Tür splitterte und sprang aus dem Rahmen. Er schob sich in die Dunkelheit, die Armbrust voran.
    Im Eingang roch es nach Blut. In den hinteren, zum Krater gel e genen Räumen brannte Licht, aber die Diele, der Korridor und der öffentliche Vorraum lagen weitgehend im Dunkeln. Daeman b e wegte sich so leise, wie er konnte; sein Magen ve r krampfte sich bei dem Blutgestank und den kleinen Kräuselu n gen unter seinen Füßen, wenn er in unsichtbare Pfützen trat. Er konnte gerade g e nug sehen, um zu erkennen, dass nichts und niemand auf ihn wartete und dass keine Leichen zu seinen F ü ßen lagen.
    »Mutter!« Sein eigener Ruf erschreckte ihn. Noch einmal. »Mu t ter! Goman? Jemand da?«
    Der Wind bewegte die Glöckchen auf der Terrasse hinter dem Wohnbereich, und obwohl der Krater und die Stadt jenseits des Kraters größtenteils dunkel waren, erhellten die Blitze die gr o ße Sitzgruppe. Die blauen und grünen Wandbehänge aus Seide an der Südwand, die er nie hatte leiden können, an die er sich jedoch gewöhnt hatte, waren mit rotbraunen Streifen und Flecken bes u delt. Der bequeme Sessel, den er immer für sich beansprucht ha t te, wenn er zu Hause war – ein der Körperform angepasster Mu t terschoß aus Wellpappe –, war völlig zerfetzt. Auch hier gab es keine Leichen. Daeman konnte sich nur fragen, ob er auf den A n blick vorbereitet war, der ihn hier erwa r tete.
    Eine Blutspur aus Strudeln und verschmierten Strichen und Fl e cken kam von der Terrasse herein und führte aus dem Wohnb e reich ins Speisezimmer, an dessen langem Tisch Mar i na so gern Gäste bewirtete. Daeman wartete auf den nächsten Blitz – das Gewitter war nach Osten gezogen, und nun lagen mehr Sekunden zwischen jedem Blitz und dem folgenden Do n ner –, dann hob er die Armbrust wieder an die Schulter und betrat das große Speis e zimmer.
    Drei aufeinander folgende Blitze zeigten ihm das Zimmer und was darin war. Es gab keine Leichen im eigentlichen Sinn. Doch auf dem über sechs Meter langen Mahagonitisch seiner Mutter erhob sich eine Pyramide aus Schädeln fast bis zur Decke, gut zwei Meter über Daemans Kopf. Zahllose leere Augenhöhlen starrten ihn an. Das Weiß der Knochen war wie ein Netzhaut-Nachbild zwischen jedem

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