Olympos
Amazonen gekämpft haben, sind noch rechtzeitig auf die andere Seite g e flohen. Der große und der kleine Ajax sind fort, ebenso Diomedes, Idom e neus, Stichios, Sthenelos, Euryalos und Teukros – selbst Odysseus ist verschwunden. Einige der Achäer – Euenor, Podarkes und sein Freund Menippos – liegen tot inmitten der Leichen der besiegten Amazonen. Als das Loch sich geschlossen hat, sind in dem Durcheinander und der Panik selbst die Myrmidonen, Achilles ’ treueste Gefolgsleute, zusammen mit den anderen geflohen, weil sie glaubten, Achilles wäre bei ihnen.
Achilles ist allein hier bei den Toten. Der Marswind weht von den Steilhängen am Fuß des Olympos herab, fährt heulend zw i schen verstreuten, hohlen Rüstungen hindurch und lässt die blu t besudelten Fähnchen an den Schäften der Speere flattern, die die Toten an den roten Boden nageln.
Der fußschnelle Männertöter hält die tote Penthesilea in den Armen und hebt ihren Kopf und ihre Schultern auf sein Knie. Er weint beim Anblick dessen, was er getan hat – ihre durc h bohrte Brust, ihre nicht mehr blutenden Wunden. Noch vor fünf Minuten hat der siegreiche Achilles der sterbenden Kön i gin triumphierend zugerufen: »Ich weiß nicht, welche Reichtümer Priamos dir ve r sprochen hat, du törichtes Weib, aber hier ist dein Lohn! Jetzt werden sich die Hunde und Vögel von de i nem weißen Fleisch ernähren.«
Bei der Erinnerung an seine Worte kann Achilles nur noch heft i ger schluchzen. Er vermag den Blick nicht von ihrer hellen Stirn, ihren noch immer rosaroten Lippen zu wenden. Die goldenen L o cken der Amazone wehen in der zunehmenden Brise, und er b e trachtet ihre Wimpern und wartet darauf, dass sie flattern, dass ihre Augen sich öffnen. Seine Tränen fallen in den Staub auf ihrer Wange und ihrer Stirn, und er wischt ihr den Schmutz mit dem Saum seines Chitons vom Gesicht. Ihre Lider flattern nicht. Ihre Augen öffnen sich nicht. Sein Speer ist durch ihren Körper gefa h ren und hat auch ihr Pferd durchbohrt, so enorm war die Kraft seines Wurfes.
»Du hättest sie nicht töten, sondern heiraten sollen, Pelide.«
Achilles blickt durch seine Tränen zu der hochgewachsenen G e stalt auf, die zwischen ihm und der Sonne steht.
»Pallas Athene, Göttin … «, beginnt der Männertöter und ve r stummt dann, bevor ihn die Tränen wieder übermannen. Er weiß, dass Athene seine größte Feindin unter den Göttern ist – dass sie es war, die vor acht Monaten in seinem Zelt erschien und seinen liebsten Freund, Patroklos, ermordete, dass sie es ist, die er in den letzten Monaten bei seinen Kämpfen gegen Dutzende anderer von ihm verwundeter Götter am liebsten erschlagen hätte –, aber er findet in diesem Moment keinen Zorn in seinem Herzen, nur b o denlose Trauer über Penthesileas Tod.
»Wie außerordentlich seltsam«, sagt die Göttin, die in ihrer go l denen Rüstung über ihm aufragt und deren lange, goldene Lanze das Licht der tief stehenden Sonne einfängt. »Vor zwanzig Min u ten warst du noch bereit – nein, ganz wild darauf –, ihren Körper den Vögeln und Hunden zu überlassen. Und nun weinst du um sie.«
»Als ich sie tötete, habe ich sie noch nicht geliebt«, bringt Achi l les heraus. Er versucht, die Schmutzstreifen im liebreizenden G e sicht der toten Amazone wegzuwischen.
»Nein, und du hast überhaupt noch nie so geliebt«, sagt Pallas Athene. »Jedenfalls keine Frau.«
»Ich habe mit vielen Frauen das Lager geteilt«, erwidert Achi l les, außerstande, den Blick von Penthesileas totem Gesicht zu wenden. »Ich habe mich um Briseis ’ Liebe willen geweigert, für Agamemnon zu kämpfen.«
Athene lacht. »Briseis war deine Sklavin, Peleussohn. Alle Fra u en, mit denen du jemals das Lager geteilt hast – darunter die Mu t ter deines Sohnes, Pyrrhos, den die Argeier eines Tages Neopt o lemos nennen werden –, waren deine Sklavinnen. Die Sklavinnen deines Egos. Bis zu diesem Tag hast du noch nie eine Frau geliebt, fußschneller Achilles.«
Achilles würde am liebsten aufstehen und mit der Göttin käm p fen; schließlich ist sie seine schlimmste Feindin, die Mörderin se i nes geliebten Patroklos, der Grund, warum er seine Männer in den Krieg gegen die Götter geführt hat – aber er merkt, dass er Penthesileas Leiche nicht loslassen kann. Ihr tö d licher Speerwurf hat ihn zwar verfehlt, aber sein Herz ist dennoch durchbohrt worden. Niemals – nicht einmal beim Tod seines liebsten Freu n des, Patroklos – hat der
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