Ostseeblut - Almstädt, E: Ostseeblut
wahrscheinlich fünffachen Mordes vor Gericht verantworten müssen. Der sieht in seinem Leben keine Sonne mehr.«
»Du solltest das nicht persönlich nehmen, Pia«, entgegnete Maiwald in tadelndem Tonfall.
»Nimmst du es persönlich?«
»Ein verlorenes Bein ist ziemlich persönlich. Aber das hätte auch anders passieren können: bei einem Autounfall zum Beispiel.«
»Aber es war kein Unfall. Er war es. Ich bin den Nachmittag, an dem es passiert ist, in Gedanken wieder und wieder durchgegangen. Doch ich verstehe immer noch nicht, was sich abgespielt hat, nachdem wir uns getrennt hatten«, sagte sie. Sie wollte nicht vorwurfsvoll klingen, aber sie musste es einfach wissen.
Die Vernehmungen Gregorians gingen schleppend voran. Einiges hatte bereits geklärt werden können, aber längst nicht alles. Pia hatte immer mal wieder das Gefühl gehabt, dass Martin Gregorian es auf morbide Art genoss, im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen.
»Komm etwas näher ran, dann muss ich nicht so brüllen«, sagte Maiwald mit einer Kopfbewegung in Richtung seines lethargisch auf einen Fernsehbildschirm starrenden Bettnachbarn.
Pia zog den Stuhl weiter an das Kopfende heran. In einer Schale auf dem Nachttisch sah sie drei orangerote und zwei hellblaue Kapseln liegen. Schmerzmittel, Antibiotika, Psychopharmaka?
»Du bist im Unterholz verschwunden, und ich bin dir ein Stück vorausgegangen. Eigentlich wollten wir uns ja an der Pforte treffen, aber ich dachte, ich könnte die Zeit auch anders nutzen. Es zog mich unwiderstehlich zu dieser Hütte; vielleicht wollte ich endlich mal eine spektakuläre Entdeckung machen, etwas Besonderes vorzuweisen haben? Obwohl mir hätte klar sein müssen, dass wir uns auf sehr gefährlichem Terrain bewegen, habe ich es wohl nicht bis in die letzte Konsequenz realisiert. Als ich mich der Hütte näherte, sah ich, dass die Zementsäcke, die neben dem Betonmischer standen, trocken und relativ neu aussahen. Wenn sie nur ein paar Tage draußen gestanden hätten, wäre das Papier aufgeweicht gewesen. Das weckte meine Neugierde. Ich blieb zwar hinter ein paar Büschen in Deckung, wollte mir aber auch die Rückseite der Hütte noch einmal genauer ansehen. Mit einem Mal merkte ich, dass ich nicht allein war. Ich habe noch meine Waffe gezogen. Alles, an das ich mich dann erinnere, ist, dass jemand mich von hinten angriff. Ich hörte ein Geräusch, sah eine Bewegung und warf mich zur Seite. Es kam so plötzlich, dass ich zu Boden ging. Ich denke mir, dass Gregorian uns beobachtet hatte. Als ich allein zur Hütte zurückkam, sah er wohl eine Chance, mich zu überwältigen. Ich prallte auf dem Boden auf, meine Pistole rutschte mir aus der Hand, und ich sah die Klinge einer Axt. Ich hab versucht auszuweichen, aber die Schneide der Axt traf mich ins Schienbein. Der Schmerz war so höllisch, dass ich das Bewusstsein verlor. Die Ärzte sagen, ich hätte auch noch einen Schlag gegen den Kopf bekommen, dem Abdruck nach mit der flachen Seite der Axt. Er hätte mir ohne Weiteres auch den Schädel spalten können … Aber ich war ihm halb tot wohl nützlicher als ganz tot. Er wusste ja offenbar, dass wir zu zweit gekommen waren. Ja … und das war’s von meiner Seite aus. Jetzt kommst du. Und lass ja nichts aus!«
Pia nickte. »Ich bin auf dem Rückweg zur Pforte kurz abgelenkt worden. Ich hatte ein Fahrrad im Unterholz entdeckt, ein Herrenrad. Es sah nicht so aus, als könnte es schon sehr lange dort liegen. Ich dachte mir, dass es Wilbur Asmussen gehört.«
»Du bist dann zurück zu der Hütte gegangen?«
»Nicht sofort. Zunächst war ich an der Pforte, wo wir uns treffen wollten. Ich verstehe nicht, wieso ich nichts von Gregorians Angriff auf dich gehört habe. So weit weg wart ihr doch gar nicht.«
»Als ich mich der Rückseite der Hütte näherte, frischte der Wind gerade auf. Es heulte und rauschte, du konntest uns gar nicht hören. Und selbst wenn, wäre es definitiv zu spät gewesen. Was hast du unternommen, nachdem du mich nicht an der Pforte angetroffen hast?«
»Ich war beim Wagen, weil ich dich da vermutet habe. Als ich dich dort auch nicht antraf, wurde mir klar, dass etwas nicht stimmt. Ich habe einen Notruf abgesetzt. Danach konnte ich nicht untätig herumstehen und warten. Als ich an der Pforte stand, hatte ich den Betonmischer gehört. Ich fand es seltsam, aber mir war nicht klar, dass mich das Geräusch nur anlocken sollte. Ich bin zur Hütte zurückgelaufen, um dich zu suchen. Bei einem Blick
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