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Palast der Schatten - historischer Kriminalroman

Palast der Schatten - historischer Kriminalroman

Titel: Palast der Schatten - historischer Kriminalroman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gmeiner-Verlag
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die französischen Films abzusetzen. ›Deutsche, trinkt deutsches Wasser. Deutsche, spielt deutsche Musik‹, las sie in den Zeitungen.
    Sie hatte die französischen Klavierstücke aus dem Programm genommen. Inzwischen verzichtete sie auch auf die russischen Komponisten. Die Vorstellungen wurden mittlerweile nicht nur von der Polizei, sondern auch vom Militär kontrolliert und zensiert. Die Kinoschnüffler trieben sich überall herum. Es war sogar verboten, Wörter wie ›Hochaktuell‹, ›Urkomisch‹, ›Zum Totlachen‹ auf die Plakate zu drucken. Ein Volksschullehrer und Polizeispitzel hatte es sich im Viertel zur Aufgabe gemacht, in den Kinos zwischen den Sitzplätzen umherzulaufen und Jugendliche herauszufischen, sie auf die Polizeiwache zu bringen, wo sie eingeschüchtert und streng ermahnt wurden. Er agierte härter als die Beamten. Ihm waren die Polizeimarke und die Schusswaffe zu Kopf gestiegen. Doch sie ließ ihn gewähren und hielt sich im Hintergrund. Sie durfte um nichts in der Welt auffallen.
    Carla schnellte aus dem Sessel, lief mit unruhigen Schritten in der Wohnung auf und ab. Wie sollte es weitergehen? Selbst viele deutsche Films wurden verboten. Sie zensierten die Leidenschaften weg. Wer interessierte sich denn für einen Film, der weder Wünsche noch Triebe weckte und auch keine Komik zeigte? Zudem fehlte Theo als Erzähler. Ihm gelang es, alle langweiligen Films mit seiner Erzählkunst in aufregende Streifen zu verwandeln. Sie hatte einen ebenbürtigen Ersatz gesucht und im ›Kinematographen‹ eine Anzeige gelesen: ›Dr. phil., starke Individualität in Erscheinung und Sprache, bringt jedes Kinotheater zu Erfolg und Beliebtheit durch dramatische Rezitation‹. Doch der Mann verlangte 300 Mark im Monat, zusätzlich forderte er noch Prozente. Sie hatte schließlich Oskar, einen freundlichen alten Mann eingestellt. Aber Oskar platzte mit Kommentaren in Szenen hinein, die stumm viel stärker wirkten. Außerdem hupte und tutete er bei jeder Gelegenheit. Das war nicht zu ertragen und zerriss jede Stimmung. Carla vermisste Hans. Er war nun auch schon seit einigen Wochen im Feld. Wenigstens Max war ihr geblieben. Sie war froh um sein steifes Bein. Max war ein guter Operateur. Er arbeitete sehr gewissenhaft und kannte alle Tricks und Kniffe, den alten Projektor zu reparieren, was die Vorstellungen immer wieder rettete. Carla umwoben warme Gedanken. Max würde ihr auch helfen, die neuen Papiere zu bekommen. Sie hatte einen Freund.
    Die Gedanken drehten sich. Wie lang war es möglich, den Preissteigerungen standzuhalten? Was käme noch alles auf sie zu? Sie lief zum Schreibtisch, knipste die Lampe an, schlug das Kassenbuch auf und blätterte darin. Einkommensteuer, Gewerbesteuer, Musik-Tantiemen, Polizeikonzession, Lustbarkeitssteuer, Wohnungsmiete, Ladenmiete, Eisenbahnfrachten und Porti für Film, Filmverbrauch, Einkaufs- und Leihgebühr. Druck- und Reklamekosten, Reparaturen an Maschinen, Projektor, Beleuchtung, Instrumente, Arbeitslöhne, Aushilfslöhne, Invaliditäts- und Krankenkassenbeiträge. Wo könnte sie sparen? Weniger Plakate? Weniger Personal? Sie würde Oskar entlassen und das Erzählen selbst übernehmen. Viele der neuen Films kamen ohnehin ohne Rezitator aus. Für ein paar Geräusche würde sie einen Kinojungen aussuchen. Sie schloss das Kassenbuch, bettete ihren Kopf darauf. Sparen, sparen. Wenn nur Theo bald wiederkäme. Sie wünschte sich nichts sehnlicher, als ihren Kopf an seine Brust zu legen und noch viel mehr.
    War er am Leben? Brüssel und Namur waren genommen. »Zehn französische Armeekorps zwischen Reims und Verdun geschlagen«, hallte es am Sedantag durch die Straßen. Jubelrufe, Deutschgesang. Sie ließ sich von den Hochs auf den Kaiser, dem Fahnenschwenken und Liedgesang, Posaunenchören und Kirchengeläut nicht mitreißen.
    Carla stützte sich mit den Händen an der Tischkante ab, stemmte sich in die Höhe und schritt zum Fenster. Die nächtliche Stadt lag im Dunkeln. Nur ein Viertel der Straßenlampen brannte. Kein Schaufenster war erleuchtet. Auch die Außenbeleuchtung des Kinos war seit Kriegsbeginn ausgeschaltet. Immer mehr Männer wurden eingezogen. Am Vortag hatte sie wieder eine Verlustliste durchgesehen. Verwundet, vermisst, gefallen, verwundet, vermisst, gefallen, echote es in ihr. 800 Tote waren vermerkt. Wann

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