Paloma - Ein Liebesroman (German Edition)
ich es schaffe!
Wenn neuer Schmerz sie überschwemmte, was allmählich beängstigend oft geschah, blieb Paloma leise wimmernd stehen und wartete, bis er wieder verebbte. Dann hob sie erneut mühsam einen Fuß nach dem anderen und schleppte sich einige wenige Schritte weiter. Auf das Tor in der Steinmauer zu, die den Hof umgab. Ein Weg von vielleicht ein- bis zweihundert Metern, die ihr jetzt jedoch wie eine Entfernung bis zum anderen Ende der Insel vorkamen.
Zwei ihrer Ziegen folgten ihr, wohl im Glauben es gehe hinaus auf die Felder. Paloma bemerkte sie nicht. Ganz und gar konzentriert auf den Schmerz und die Pausen dazwischen, in denen sie ein möglichst großes Stück Weg zurücklegen wollte, stolperte sie vorwärts. Und endlich war es soweit, Paloma hatte das Tor erreicht. Tränen der Erleichterung verschleierten ihr den Blick. So als ob sie mit dem Tor bereits ihr Ziel erreicht hätte. Und nicht die schlimmste Strecke, die bis zu Anas Haus, noch vor sich hatte.
Paloma griff, wie sie es immer getan hatte, nach einer der hölzernen Latten, um das Tor aufzustoßen. Zu ihrer Überraschung, ja Entsetzen, spürte sie jedoch Widerstand. Sie nahm all ihre Kraft zusammen, trotzdem ließ das Tor sich nicht öffnen. Und dann fiel ihr Blick auf die Eisenkette, die um eine der Querlatten geschlungen war – sie selbst hatte das getan – und auf das Schloss daran. Ein schweres, stabiles Schloss, das sich nur mit dem Schlüssel öffnen ließ, der drüben im Haus lag. Paloma zerrte und rüttelte mit aller Kraft, die sie noch aufbrachte, an der Kette und am Schloss, und die Tränen, die ihr dabei übers Gesicht liefen, waren Tränen des Zorns. Aber sowohl Eisenkette als auch Schloss waren neu und stabil, keins von beiden gab nach. Und ebenso unverrückbar und stabil erwiesen sich die verwitterten, alten Holzlatten, auch wenn sie aussahen, als fielen sie fast von alleine auseinander.
Paloma wartete ab, bis die nächste Schmerzwelle vorüber war. Die so heftig war, so jenseits von allem Erträglichen, das sie das Gefühl hatte, ihr Leib werde in Stücke zerrissen. Erst danach konnte sie wieder klarer denken. Aber damit wurde ihr auch die ganze Aussichtslosigkeit ihrer Anstrengungen klar. Wenn sie das Tor öffnen wollte, musste sie zurück zum Haus und den Schlüssel holen, aber das war das Letzte, was sie jetzt tun würde. Ohnehin würde sie es niemals schaffen. Und so schleppte sie sich ein paar Meter weiter, dorthin, wo durch abgebröckelte Steine eine kleine Lücke in der Mauer entstanden war. Ein an anderen Tagen bequemer Überstieg, den sie schon oft benützt hatte, um den Weg abzukürzen. Heute jedoch erwies er sich als unbezwingbar. Eine neue Schmerzwelle überschwemmte sie mit einer solchen Kraft, dass sie die Beine nicht anheben konnte.
Gekrümmt, die Arme um den Leib geschlungen, keuchend vor Anstrengung, sich vom Schmerz nicht vollkommen überwältigen zu lassen, stand Paloma gegen die Mauer gelehnt da.
Sie zweifelte jetzt nicht mehr daran, es nicht mehr bis zu Ana hinüber zu schaffen. Und der Gedanke, völlig auf sich allein gestellt zu sein, versetzte sie in Panik. Nur blieb ihr nicht viel Zeit dafür, ihr war, als ob ihr Leib explodieren würde und die Schmerzen zwangen sie in die Knie. Und so, den Rücken gegen die Steinmauer gepresst, neugierig beobachtet von ihren beiden Ziegen, brachte Paloma ihr Kind auf die Welt. Mit den Händen unter sich bereits die Rundung des kleinen Kopfes spürend, ließ sie den letzten kräftigen Wehen freien Lauf und presste mit lautem Aufschrei ein verschmiertes Menschlein heraus, das nach Luft schnappend, einen ersten Schrei von sich gab.
Ein Mädchen. Das winzige Gesicht mürrisch verzogen, fuchtelte es mit seinen dünnen Ärmchen und Beinchen in der Luft herum.
Auf der Erde kniend, wischte Paloma mit ihrem Rock das Kleine notdürftig sauber, kniff dann mit ihren Fingernägeln die Nabelschnur durch und wickelte es in ihr wollenes Schultertuch. Zitternd vor Schwäche, mit dem Bündel im Arm an die Mauer gelehnt, versuchte sie wieder zu Kräften zu kommen.
Das war es also. Sie hatte es geschafft. Sie hatte ihr Kind auf die Welt gebracht. Philipp! Lautlos formten ihre Lippen seinen Namen. Und dabei fühlte sie sich plötzlich unendlich allein. Und schwach und hilflos. Und wünschte sich sehnlichst, Philipp wäre bei ihr. Sie brauchte ihn so sehr ... er fehlte ihr so schrecklich. Aber dann stieg plötzlich verzweifelte Wut in ihr auf. Sie hasste diesen Mann, dafür dass er
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