Parallelgeschichten
später aufräumen. Es gibt keinen Schutz, keine Omnipotenz, oder wie das auf Ungarisch heißt.
Mir fehlt Gott nicht, auch meine Mutter nicht, sie war eine arme Unglückliche. Wenn mir der Nagel in die Zehe reinwächst, quält mich das mehr, ganz ehrlich. Fehlen ist nicht der richtige Ausdruck. Mich quält, dass andere etwas haben, das mir nicht einmal fehlt. Sie haben jemanden, den ich nicht habe. Obwohl auch meine Mutter lebt, jedenfalls ist sehr wahrscheinlich, dass sie noch lebt, auch wenn ich das nicht ganz sicher wissen kann. Wenn sie stirbt, werde ich es nicht erfahren, nichts werde ich erfahren. Was weiß ich dann. Nicht dass es mir wehtäte, was sollte wehtun, wenn man etwas gar nie erlebt hat, nein, es tut nicht weh. Aber ich kann nicht einmal wissen, wen ich hasse. Du hasst sie, und so weißt du wenigstens genau, wen du hasst, und das tut dann weh. Ich habe ein Leben, ja, aber das Ganze hat keine Gestalt. Ich kann mich im Spiegel ansehen, so sieht sie wahrscheinlich aus, vielleicht wirklich so wie ich, aber es kann auch sein, dass sie ganz anders aussieht. Deshalb brauche ich die Kinder so sehr. Ein eigenes zu haben, daran wage ich nicht einmal zu denken. Wenn ich die Kinder nicht jeden Tag sähe, würde ich im nächsten Spiegel mein eigenes Bild kaputt schlagen.
Du bist doch ein kluges Mädchen, Gyöngyvér.
Sag das noch einmal.
Wenn du es zweimal hören willst, ist das nicht Klugheit, sondern das prägnante Zeichen von Dummheit.
Geh mir doch mit deiner Klugheit. Ich will meinen Namen von deinen Lippen hören.
Vielleicht hast du das immer noch nicht begriffen, aber auch mit meiner Aussprache finde ich meinen Ort nicht. Das ist vielleicht wie mit deiner Mutter. Es gibt sie nicht mehr, selbst wenn es sie gibt. Die ungarische Intonation ist irgendwo verlorengegangen, verschwunden, weg. Da kann ich noch lange hier leben, und du noch lange darüber spotten. Und nicht das ist mein Problem, dass sie mich einmal, früher, aus ihrem Kreis verstoßen haben, da hast du recht, wen interessiert das schon. Sondern mein Problem besteht darin, dass ich mich irgendwo, am erstbesten Ort, zurechtfinden musste, und daran ist etwas unerlaubt Zufälliges. Es ist lächerlich und unwiderruflich, wenn sie mich nach China geschickt hätten, hätte ich dort in mir den Chinesen entdecken müssen.
Warum sollte ich das nicht verstehen. Andere nennen das Heimat und Heimweh. Fern, fern ist meine Heimat, sang sie dem Mann plötzlich den verbotenen Schlager ins Gesicht. Aber du, ich weiß nicht warum, schämst dich dafür. Auch da übertreibst du.
Ich weiß nicht, wer von uns beiden mehr zur Übertreibung neigt. Ich glaube, du.
Soll ich es dir vorsingen?
Nein, sagte der Mann rasch, von mir aus gesehen hat das nicht viel mit Heimat zu tun, das ist eher der Rhythmus des Lebens. Ein Rhythmus, für den ich jedenfalls nicht taub bin. Er ist in jede Sprache anders hineingewoben. Man nimmt ihn als Kind zusammen mit dem Sprachrhythmus auf und vergisst ihn nicht mehr. Höchstens einmal stellt man um, aber von dort gibt es dann kein Zurück mehr, zweimal geht das nicht. Wie eine Nadel, die stecken bleibt, immer wieder zurückspringt, immer wieder die andere Melodie spielt, und so klingt alles falsch. Die Sprache in der oberen Rille bleibt stärker präsent. Und dann will ich hier auch gar nicht zu Hause sein, kann es nicht.
Ich merke, dass ich nicht einmal die Straßennamen behalten kann.
Oder es nicht will, weil sie mich nicht interessieren.
Aber mach dir doch nicht so viel draus. Ich finde es so süß, wie deine Zunge bei meinem Namen stolpert. Ich hasse ihn sowieso. Gyöngyvér, Perlenblut. Blut mag es meinetwegen auf den Budapester Straßen geben, oder in der Unterhose, wenn man die Periode hat, aber doch nicht in einem Namen.
Schon etwas seltsam, was du da redest, ich verstehe es gar nicht, sagte Ágost rücksichtsvoll, aber eigentlich stießen ihn diese Ausdrücke so sehr ab, dass er fast erbrechen musste.
Und auch Gyöngy, Perle, finde ich widerlich.
Meiner Meinung nach plapperst du zu viel. Viel eher müsste man der Geschichte des Namens nachgehen, halt still.
Wenigstens verschönerst du in deiner Sprache meinen scheußlichen Namen, ich beweg mich doch gar nicht.
Innen öffnest du dich aber heimlich, und dann umschließt du mich, umschrumpfst mich. Wenn man das auf Ungarisch so sagen kann.
Noch mal, sag’s noch einmal, bitte, bitte. Mich interessiert keine Geschichte von irgendwas.
Den Vogel am Bein, mich an meinem
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