Parallelgeschichten
Besonnenheit. Ach Gott, ach Gott, seufzte sie. Ein wirklich erfahrener Mann, ein Mann von Kopf bis Fuß. Die Ähnlichkeit traf sie unvorbereitet. Aber Mihály ist so viel gütiger. Er hat ja auch nichts zu verbergen. Da hat er es leicht, offener zu sein. Jedenfalls hoffte sie, dass Mihály nichts zu verbergen hatte.
Die jungen Männer, denen sie begegnete, musste sie einfach mit ihm vergleichen, sie konnte nicht anders.
Jetzt hatte sie die Frage zwar zu Mihálys Gunsten entschieden, aber gerade wegen der physischen Ähnlichkeit spürte sie auch die gleiche Anziehung.
Die Anziehung, die Mihály auf sie ausübte und die aus Anstandsgründen weitgehend unverwirklicht bleiben musste, ließ sie häufig ins Wanken geraten, machte sie minutenlang schwindeln. Wenn sie jetzt nicht von einem ähnlichen Gefühl, das ja auch völlig unangebracht gewesen wäre, übermannt wurde, so wohl nur, weil die Kühle des Kirchenraums sie noch immer leicht umschwebte. Zuweilen brauchte sie bloß an Mihály zu denken, und sie musste um einen Stuhl oder um ein Glas Wasser bitten. Als wäre sie nicht ganz präsent. Als wäre es nicht sie, die den anderen sah und spürte. Als behauptete ihr Bewusstsein plötzlich, dass die wesentliche Übereinstimmung zwischen den beiden Männern in ihrer körperlichen Anziehung liege, obwohl sie sich heftig gegen den Gedanken wehrte, sie wusste doch, dass es eine Gefühlstäuschung war, ein Irrtum, nichts weiter.
Und dass er schon nach zwei Tagen so sehr fehle, dürfe sie nicht misstrauisch machen.
Auch gegenüber dem fremden Mann nicht.
Von der Schuer verdiente die seinem Geschlecht zustehende Bewunderung, er war in der Tat von Kopf bis Fuß ein Mann. Siebzehn war er zweimal schwer verwundet worden, an der Westfront in Flandern, zuvor auch, weniger schwer, in Galizien bei der Belagerung von Gorlice, und bei allen drei Gelegenheiten hatte er das Silberne Ritterkreuz erhalten, danach auch noch, für außerordentliche Tapferkeit vor dem Feind, das Eiserne Kreuz 2. Klasse, dann das Eiserne Kreuz 1. Klasse. Bei Kriegsende wurde er im Rang eines Hauptmanns demobilisiert. Tatsächlich hatte er, darin täuschte sich Gräfin Imola nicht, einiges zu verbergen, was ihn geistig zerrüttete, auch wenn er in der sonnigen, liebevoll gepflegten Direktorenvilla in der Ihnestraße mit Frau und drei Kindern scheinbar ein in jeder Hinsicht heiteres und geordnetes Leben führte.
Nach dem ungeheuren Kriegszusammenbruch musste er seine militärischen Pläne an den Nagel hängen, die Fahne verlassen, auf die er in den ersten Kriegstagen ewige Treue geschworen hatte; eine andere Wahl hatte er nicht. Seine frühere Überzeugung war verflogen, besser, sie hatte ihn im Stich gelassen. Zwei Jahrzehnte später sah er sich von seinen Erlebnissen immer noch in heimtückischen Bildern verfolgt, wobei es sich meistens gar nicht um Bilder handelte, sondern um Erscheinungen. Er wusste nicht, sah er sie oder stellte er sie sich nur vor, war es nur Erinnerung, wie die Bombe den Rumpf seines Maschinengewehrschützen zusammen mit den Schlammbrocken in den matschfarbenen Himmel spritzt, von einer Stelle aus, wo jetzt nichts mehr ist außer abstrahlender Hitze, während die abgerissenen Arme des Schützen in verschiedene Richtungen fliegen und er lebendig aufgespießt an einem Baumgerippe hängen bleibt.
War das wirklich geschehen, und sah er es.
Die Angst vor dem Wahnsinn hatte seinen Patriotismus allmählich und fast unmerklich verwandelt, aber die Strenge seiner Erziehung verbat ihm, darüber zu sprechen, nicht einmal mit seinen Freunden sprach er von diesem entsetzlichen Verzicht.
Freunde hatte er kaum.
Denn das, was er zu Recht als Freundschaft hätte ansehen können, durfte er sich nicht erlauben.
Freundschaft geht ja nicht nach Rang, Status und Titel. Für die züchtige körperliche Zärtlichkeit und die schonungslose physische Brutalität, die er in regenaufgeweichten Schützengräben, zwischen Drahtverhauen, in elenden Sanitätsbaracken und den überheizten, verrauchten Bordellen der galizischen Kleinstädte gesehen und erlebt hatte, besaßen weder die Tradition noch sein Glaube eine Erklärung. Das alles war jenseits der gesellschaftlichen Maßstäbe. Von den verwilderten Tieren, die vor Hunger und Durst benommen durch kahlgeschossene Wäldern geirrt waren, von der aus Grobheit und Rücksicht zusammengezimmerten brüderlichen Kameradschaft konnten weder seine in einer Duftwolke daherschwebende Mutter noch sein in exemplarische
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