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Parallelgeschichten

Parallelgeschichten

Titel: Parallelgeschichten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Péter Nádas
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Strenge hineingemagerter Vater etwas wissen, während ihr jüngster Sohn das alles gesehen und erlebt hatte.
    Für ihn wurden sie zu ahnungslosen Leuten.
    Es war, als betrüge er mit seinen Fronterfahrungen, mit allem, was er fürs Vaterland getan hatte, seine Eltern auf üble Art, als bereite er ihnen mit dem heimlichen Zustand seiner Moral eine unsägliche Enttäuschung. Lange konnte er nicht mehr den guten Sohn spielen. Sein Leben hatte die Unschuld verloren, er wusste nicht mehr, wozu man ein anderes Wesen, gleich welchen Rangs oder Geschlechts, leidenschaftlich und bedingungslos liebgewinnen sollte, seinen verwundeten Kameraden oder auch nur eine schlampige ukrainische Hure, die er nur gerade zweimal benutzt hatte, ihren Duft oder mehrwöchigen Gestank, wenn er sie doch im folgenden Augenblick bedenkenlos dem Tod preisgeben konnte. Er vermochte nicht über den schrecklichen Schatten seiner Heldenhaftigkeit und Standhaftigkeit zu springen, den Schatten der Massenschlächtereien, die er befehligt hatte und die aufgrund der Technik zum ersten Mal in der Kriegsgeschichte zur Bedingung des militärischen Erfolgs avanciert waren. Etwas zu befehligen gab es immer, er hatte die Verantwortung für andere, da gab es kein Zurück, aber dann lief die Sache nie so, wie er es befohlen hatte. Als er nach fünf Jahren das Neuland des Zivillebens betrat, wo zu seiner größten Überraschung alles berechenbar geblieben war, fiel es ihm nicht so schwer, die Gefallenen oder die Bilder der Nahkämpfe zu vergessen, aber da waren die Bilder seiner von einem Geschoss verstümmelten Männer, denen niemand zu Hilfe eilen konnte, oder der Männer, die wahnsinnig geworden waren und die er eigenhändig erschießen oder erschießen lassen musste, die wurde er nicht mehr los.
    Willi zum Beispiel, der zwei schwere Jahre lang sein Offiziersbursche gewesen war und den er seither für sich seinen lieben kleinen Willi nannte, auch wenn der vierschrötige, mondgesichtige, ewig grinsende Bauernsohn aus der Eifel alles andere war als lieb und klein. Der aß Menschenfleisch, und nicht, weil er hungrig war, es schmeckte ihm und er bot allen davon an, sie waren ja von der Versorgung abgeschnitten und litten Hunger; er tat es, weil er wahnsinnig geworden war, oder er war vielleicht gerade deswegen wahnsinnig geworden, weil er solches Fleisch aß. Manchmal, wenn er in solchen Gedanken verloren war, musste Freifrau Erika ihren Gatten mehrmals mahnen, bis er hörte, dass man zu ihm sprach.
    Die zum Schuss erhobene Pistole hatte den Wahnsinnigen augenblicklich zur Vernunft gebracht; er presste sich mit ausgebreiteten Armen an die glitschige Wand des Schützengrabens, und in seinem wieder wachen Blick strahlte die Hoffnung, dass es der Freiherr doch nicht tun würde.
    Nicht mit ihm.
    Immer lauter musste die Freifrau mahnen, bis er endlich hochschreckte und nicht nur sah, wo er war, sondern es auch wusste. Zum Glück dachte die lebhafte kleine Frau wahrscheinlich, ihr Mann sei von wissenschaftlichen Fragen in Anspruch genommen. Aber gerade weil er davon in Anspruch genommen war, schweiften seine Gedanken zu dem wissenschaftlich nie durchleuchteten Bereich ab.
    Eigentlich suchte er die Grundlage seiner Wissenschaft.
    Die Tatsache, dass er ein Aristokrat war, der Abkömmling eines uralten Geschlechts, zu ritterlichem Benehmen erzogen, betraut mit dem Leben und dem Schicksal anderer Menschen, hatte im vergangenen Krieg völlig Sinn und Zweck verloren. Es gab nur nackte, unverhüllte Todesangst, gegen die keine Disziplin oder Selbstbeherrschung ankam.
    Nicht er hatte Angst, sondern sein Körper. In dieser körperlichen Angst, in ihr sitzend, hatte er Gott zu suchen begonnen, hatte ihn verzweifelt und zweifelnd gesucht, um in Blut und Schnee und Schlamm, heißkalt schaudernd vor Wundfieber, nicht ins Schwanken zu geraten, weder physisch noch geistig.
    In der kollektiven Angst und im kollektiven Schmerz zeigte sich Gott ganz anders als in den Stunden kindlichen Glaubens oder jugendlichen Aufbegehrens.
    Wahrscheinlich hatte Gott in den menschlichen Ereignissen keinen Platz, er musste sich von den Strünken zerbombter Bäume und schmerzgekrümmter Leiber gar nicht erst zurückziehen, um abwesend zu sein. Des blinden Glaubens verlustig, hätte von der Schuer zum ersten Mal gern den verletzlichen, den Sehnsüchten ausgelieferten, Empfindungen unterworfenen Körper begriffen, in welchem man den Verstand und die Seele so leicht ein für alle Mal löschen oder zum

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