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Pas de deux

Pas de deux

Titel: Pas de deux Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philippe Djian
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ganze Frust, den ein Typ meines Alters empfand, stieg mir in die Kehle. Ich packte unwillkürlich mit beiden Fäusten die Tagesdecke und verdrehte die Augen hinter ihrem Rücken. Ihr ganzer Vortrag hatte mich krank gemacht. Und dieses Gesicht, das ich zog, angewidert, wie sieben Tage Regen. Ich hatte mir meine Mutter nie beim Bumsen vorgestellt, ich wollte nicht daran denken. Nie hatte ich wissen wollen, was sie trieb. Wenn sie ausging, wartete ich nicht ungeduldig, bis sie zurückkam, ich durchsuchte niemals ihr Zimmer, spionierte ihr niemals nach. Die einzige Liebschaft, von der ich wußte – und das nur, weil mir Edith davon erzählt hatte und er manchmal kam und sie irgendwohin mitnahm –, war dieses vage Verhältnis, das sie mit Spaak hatte, aber ich verband das nicht mit irgendwelchen präzisen Bildern. Außerdem hatte ich nie gesehen, daß sie sich küßten oder ein wenig enger aneinanderschmiegten. Meine Mutter war für mich ein unberührbares Geschöpf, viel zu sehr mit den Dingen des Geistes beschäftigt, als daß sie sich um die des Fleisches kümmerte. Sie lachte nicht bei gewissen Scherzen, war überhaupt nicht zärtlich, lümmelte sich nie im Bett herum. Ich wußte nicht, was sie außer Tanzen interessierte. Wenn sie mich ansprach, dann redete sie nur von der Freiheit, dem Lied der Erde und der Kraft der Seele und was weiß ich. Für mich war sie der Welt entrückt. Natürlich hatte ich schon an sämtlichen Schlüpfern geschnüffelt, die in diesem Haus herumflogen, aber man konnte Gift darauf nehmen, daß ich die meiner Mutter noch nie angerührt hatte. Sie wollte also, daß wir miteinander redeten? Hatte sie überhaupt eine Ahnung, was in meinem Innersten vorging? Wollte sie die steifen und gelb gefärbten Tücher sehen, mit denen ich mich abwischte? Wollte sie wissen, von welchem Typ Frau ich träumte, welche Situationen ich mir ausmalte, welche Instrumente, welche Tiere, welche Greuel ich zu Hilfe rief? Ich war an einem Punkt angelangt, wo ich nicht mehr wagte, mich ihr zu nähern, so schmutzig und unwürdig fühlte ich mich. Und plötzlich ertappte sie mich mit Jérémie. Sie hätte davonlaufen und nicht mehr mit mir reden sollen, das hätte ich verstanden. Aber sie war geblieben. Das war, als wäre sie mir in einen Puff nachgegangen, als hätte sie mich tief in einer Kloake gefunden. Am liebsten hätte ich mich vor ihr übergeben, damit sie zurückging, woher sie kam. Ich war wütend, verletzt, unglücklich, voller Haß, erschüttert. Ich suchte nach grausamen Worten, ich hätte sie mit Steinen vertreiben mögen. Aber sie bremste mich in meinem Elan: »Henri-John, ich glaube, du vergißt eins: Ich bin deine Mutter. Ich sag das nicht, um dir vorzuhalten, daß du gewisse Wörter vor mir verwendest, sondern schlicht, um dich daran zu erinnern, daß du nicht von allein zur Welt gekommen bist. Es ist reine Zeitverschwendung, wenn du mich schockieren willst. Ich kenne mich da bestimmt besser aus als du. Und weißt du, wir brauchen die Sache nicht aufzubauschen. Wenn du willst, verrate ich dir gern meine Lieblingsstellung und die empfindlichsten Stellen meines Körpers …«
    Bei diesen Worten ließ ich mich vollends nach hinten fallen, die Augen zur Decke gerichtet. Und der Gedanke, der mir durch den Kopf ging, nahm die Form eines Verses von T. S. Eliot an, ein Vers aus einem Gedicht, das wir mit Alice übersetzt hatten: »Und erlaube deinem Schrei, zu dir vorzudringen.«
     
    An diesem Tag war keine Vorstellung. Ich nutzte diesen milden Nachmittag nicht, wie ich es hätte tun sollen, und Ramona hielt mich ein wenig länger auf als sonst, um mir eine Mazurka von Chopin zu zeigen, aber ich hörte ihr nur mit halbem Ohr zu. Seit einer Woche führten sie Le Concert auf, ein Ballett, das Robbins einige Jahre zuvor in New York inszeniert hatte, und Ramona spielte einige Stücke auf der Bühne, darunter auch dieses, während die anderen ringsum tanzten. Es handelte sich um ein komisches Ballett. Diesmal tanzte Georges mit, weil er es lustig fand. Er hatte große Schmetterlingsflügel und schminkte sich wie Groucho Marx. Das war eine Aufführung, die alle in gute Laune versetzte, aber an diesem Tag war mehr vonnöten, um mich aufzuheitern. Kurz und gut, ich schaffte es nicht, mich auf Ramonas Erklärungen zu konzentrieren. Durch die Terrassentür sah ich meine Mutter im Garten. Sie war damit beschäftigt, Bänder an ihre Ballettschuhe zu nähen, und mir blieb immer noch die Luft weg.
    Den Rest des Nachmittags

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