Pas de deux
verbrachte ich damit, in meinem Zimmer zu schmökern und ein paar Zigaretten zu rauchen, ohne dem Geschmack abzugewinnen. Ich wechselte fünfhundertmal die Haltung, öffnete und schloß so oft das Fenster, daß mich Oli von unten fragte, ob es mir noch gutging.
»Armer Irrer! Kümmere dich um deinen Scheiß!« rief ich ihm zu, dann wich ich zurück, denn ich war bestimmt nicht wiederzuerkennen.
Mir halb das Genick brechen, mir einen blasen lassen und dann noch erfahren, daß meine Mutter eine Lieblingsstellung und empfindliche Stellen hat – und womöglich noch Strapse und eine Peitsche in der Schublade –, das war wirklich ein interessanter Tag! Ich wagte kaum den Kopf zu heben, aus Angst, noch mehr zu kassieren. Ich hörte sie unten im Garten lachen. Hörte die Vögel in den Bäumen. Das Telefon und Georges im Salon. Die Küchenschränke, die Töpfe und das Wasser in den Leitungen, im Spülbecken und in einem Behälter, wahrscheinlich, um Nudeln zu kochen. Bald sieben Uhr. Ein Eselsohr an einer Buchseite. Dann legte ich die Hände hinter den Kopf, bis ich meinen Namen hörte: »Henri-John, essen kommen!« Olis schrille Stimme. Und noch ein letzter Blick zum Fenster hinaus, die Abenddämmerung, die Lichter des Hauses auf der Linde. Ich war nicht gerade in Bestform, aber auch nicht ganz daneben, nur ein kurzes Zaudern, dann hinunter.
Georges verkündete uns, daß sich die Reise nach Leningrad um sechs Monate verzögere, was Gesprächsstoff während des gesamten Essens und mir die Gelegenheit bot, den Blick auf meinen Teller zu richten. Nicht daß ich Jérémie oder meiner Mutter nicht in die Augen hätte schauen können, aber ich wollte in Ruhe gelassen werden. Es ist nicht sonderlich schwierig, unbemerkt zu bleiben, wenn vierzehn Leute am Tisch sitzen.
Georges, Jérémie und Eric saßen am einen Ende des Tisches, meine Mutter, Ramona und Alice am anderen. Auf der einen Seite saßen Rebecca, Oli, Edith und ich, uns gegenüber Olga, Corinne, Chantal und Karen. Ich sagte mir des öfteren, daß das ein schlechter Witz war, so viele Frauen im Hause zu haben und mit keiner etwas anzufangen. Und ich wußte auch, wo das Problem lag: Sie kannten mich seit meinem siebten oder achten Lebensjahr. Ich war auf ihren Schoß gehüpft und daumenlutschend darauf eingeschlafen, während sie mir Geschichten erzählten, sie hatten mich in all den Jahren zugedeckt und auf die Stirn geküßt, waren mit mir im Park spazierengegangen und hatten meinen Nachmittagstee gekocht. Ich war überzeugt, sie würden mir, wenn ich nur den geringsten Annäherungsversuch machte, ins Gesicht lachen, oh, nicht böse, ganz freundlich, was noch schlimmer wäre, denn ich hätte es ertragen können, zum Teufel geschickt zu werden, aber nicht, wenn sie auf gerührt oder amüsiert gemacht hätten: »Ho! Na, Henri-John, wo denkst du hin?!« Leider dachte ich an nichts anderes. Und das so sehr, daß ich mich zuweilen fragte, ob ich krank sei. Ich stellte mir irgendein finsteres Leiden vor, eine Krankheit, die mein Hirn zerfraß und durch nichts gelindert werden konnte, außer durch die Lektüre der Folies de Paris-Hollywood, wenn es denn stimmt, daß man den Teufel mit Beelzebub austreiben kann. Ich wagte mit niemandem darüber zu sprechen, wollte es auch nicht, denn ich nahm an, daß mich allein eine Gehirnoperation davon befreien konnte, und darauf war ich nicht erpicht. Ich dankte dem Himmel, daß noch niemand bemerkt hatte, welch Besessener in diesem Haus umherstrich. Meine größte Angst war – und ich überprüfte es regelmäßig im Spiegel des Badezimmers –, daß mir das im Gesicht geschrieben stand.
Zum Ausgleich verschlang ich jede Menge Gedichte. Ich versuchte den Kopf über Wasser zu halten. Einige Monate lang hatte ich versucht, ein Tagebuch zu führen, aber ich war vor den Schändlichkeiten zurückgeschreckt, die in meinem Kopf überquollen: Wenn irgendwer dieses Buch jemals in die Finger bekam, war ich erledigt. Mein Fall erforderte also größte Umsicht. Ich hatte Oli davon überzeugt, daß so etwas nichts für uns war, und eines schönen Abends waren unsere Tagebücher im Kamin gelandet. Sie enthielten fast nur leere Seiten, aber was für eine Erleichterung für mich, ich sah, wie sie sich in den Flammen krümmten, als wären sie beschrieben. »Ich sag dir was …« hatte ich Oli zugeflüstert, während sich unsere Memoiren in Rauch auflösten. »Erstens glaube ich nicht, daß sie groß was zu erzählen hat, sonst wüßten wir es. Und
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