Pas de deux
wenn du mich fragst: du kannst sicher sein, wenn da irgendeine etwas peinliche Sache ist, dann schreibt sie die nicht auf. Also, ’wozu dann ein Tagebuch, kannst du mir das mal sagen? Aber das ist typisch Edith, sie macht bestimmt weiter, nur um uns damit auf den Wecker zu gehen … Hast du eigentlich gemerkt, daß die für sowas immer Zeit haben?«
Irgendwie hatte ich den Eindruck, ich würde die Mädchen ganz gut kennen. Ich meine damit, daß ich sie den lieben langen Tag beobachtete, alle, die sie da waren, und wenn mir auch einiges von ihnen entging – so wie mir auch einige meiner Charakterzüge entgingen –, barg ihre Welt für mich so viele Geheimnisse auch wieder nicht. Mir war öfters schon aufgefallen, daß ich mehr darüber wußte als andere Jungen meines Alters. Selbst Bob, der neunzehn war und sich rühmte, es so oft gemacht zu haben, daß er nicht mehr mitzählte, tappte – da war ich mir ganz sicher – ziemlich im dunkeln. Mit ihnen zu bumsen war eine Sache, zu wissen, mit wem man es zu tun hatte, eine andere. Ich mußte jedoch zugeben, daß mir dieses Wissen nicht von großem Nutzen war. Was das anging, hatte mir Bob eines Tages gesagt: »Ich brauch mir kein Lehrbuch über Elektrizität reinzuziehen, um zu wissen, wie man das Licht anmacht.« Ich machte mir noch keine Gedanken darüber, warum es so viele Schwachköpfe fertigbringen, auf Erden klarzukommen.
Nach dem Essen beschlossen Eric und Jérémie, in die Stadt zu fahren. Georges machte sich an seine Buchführung. Meine Mutter, Karen und Ramona gingen nach oben, um sich hinzulegen. Alice nahm sich ein Buch. Ich spielte mit Oli und Rebecca Mikado. Die anderen quatschten in der Küche, räumten auf und kochten den üblichen Abendtee. Ich entspannte mich ein wenig, als der Abend vorrückte. Ich ging mit Georges vor die Tür, um Holz zu holen. Die Nacht war frisch, aber er hoffte dennoch, daß wir in einigen Tagen nicht mehr zu heizen brauchten, und er blieb einen Moment stehen, um mit zufriedener Miene den Himmel zu betrachten: »Herrgott! Zieh mir diesen Dorn aus dem Fuß!« meinte er grinsend.
Wir legten einige Scheite auf das Feuer, dem Corinna und Edith ihren Hintern darboten. Alice stand gähnend auf und schob mir, bevor sie sich auf ihr Zimmer zurückzog, ein Buch unter den Arm, einen Gedichtband von Hilda Doolittle. Rebecca hatte die Nase voll von Mikado, sie gesellte sich zu Georges, um ihm die Schultern zu massieren. Chantal schrieb an ihre Eltern und fragte, ob man Jerome Rollins mit zwei l schrieb.
»Ro bb ins!!« stöhnte Georges.
Olga kam mit einem großen Topf Boldoflorine aus der Küche.
»Wer will, kann sich bedienen …« sagte sie.
Wir lungerten noch eine Weile herum. Abends passierte im allgemeinen nicht viel, aber Edith, Oli und ich zählten immer zu den ersten, die schlafen gingen. Ich meine, es passierte nichts Aufregendes. Aber wir waren dabei. Wir waren über das Alter hinaus, wo man uns ins Bett schickte. Und wir hatten wahrhaftig darunter gelitten! Wer hätte das nicht ausgenutzt nach all den Jahren, in denen es um Punkt neun Uhr »ab in die Falle« geheißen hatte?!
Es war kurz vor Mitternacht, als ich hinter den beiden anderen nach oben ging und Georges bei seinem allabendlichen Rundgang zurückließ – er hatte eine Heidenangst vor Gas und schnüffelte links und rechts, bevor er das Licht ausmachte. Ich bog auf der ersten Etage ab, um mir den üblichen Stau vor dem Badezimmer im zweiten Stock zu ersparen. Ich betrachtete einen Moment lang die Griffe der Zahnbürsten, die in einem Becher steckten, dann nahm ich die von Olga, die mir am neusten erschien. Zu befürchten hatte ich nichts, denn sie lag mit ihrem Reinheitsfimmel im Bett, ich nahm sogar ihre Seife (»extra für die zarte Haut«), um mir die Hände zu waschen, was leicht einen kleinen Tumult hätte auslösen können. Dann schnappte ich mir Georges’ Rasiermesser und schabte vorsichtig über meine schattigen Zonen, nachdem ich mich der Fortschritte meines Bartwuchses vergewissert hatte. Man konnte meinen, dieses Leben liefe in Zeitlupe ab.
Ich wollte gerade in mein Zimmer gehen, als Ramonas Tür aufging. Sie fragte, ob ich einen Moment Zeit hätte.
»Was gibt’s?«
Sie bedeutete mir, ich solle kommen.
Im Gegensatz zu den anderen trug sie keinen Pyjama. Tagsüber kleidete sie sich wie vor fünfzig Jahren, dachte ich mir jedenfalls, sie trug höchst komplizierte, hochgeschlossene Kleider, mit Spitzen besetzt, und stets ein Taschentuch im Ärmel.
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