Pas de deux
doch hinter seinem Rücken wedelte er ungeduldig mit einer Hand und forderte uns auf, nicht ewig und drei Tage herumzutrödeln. Mir war, als hätte ich einen Peitschenhieb mitten ins Gesicht bekommen. Ich richtete mich auf, atemlos und bestimmt leichenblaß. Ich spürte zwar, daß es mir dazu ein wenig an Kaltschnäuzigkeit fehlte, daß diese Sache nicht ganz normal war, aber es war wirklich obszön, wie sie da lag, und diese Nacht hatte ich sie alle nicht in mein Herz geschlossen, ich verfluchte sie mit jeder Faser.
Oli legte eine Hand auf meine Schulter.
»Geh mir nicht auf die Eier!« hauchte ich ihm zu.
Und damit schlüpfte ich zwischen Chantals Beine und stocherte wie von Sinnen in ihr herum.
20. Dezember 1958
Kaum waren wir zurück, hat sich Myriam auf ihr Bett geworfen und ist eingeschlafen. Sie hält es nicht aus. Beim Essen hat sie in einem fort gegähnt und nicht einmal ihre »Pelmeni« angerührt (so etwas wie Ravioli mit geschmolzener Butter und Sahne, mir lief das Wasser im Mund zusammen!). Nun gut, ich hoffe, es wird mir nicht noch leid tun, daß ich mit ihr ein Zimmer teile, ich sehe andere nicht gern schlafen, und das ist schon das zweite Mal, daß sie mir das antut. Gestern lag sie schon mit gekreuzten Armen da. Ich wollte meinen Koffer wegräumen und redete mit ihr vom Badezimmer aus, und plötzlich war nichts mehr zu hören. Sie hatte weder die Tagesdecke abgezogen noch sonstwas, und ausgezogen war sie auch nicht. Ich kriegte den Mund nicht mehr zu. Ich meine, wir waren zwar spät angekommen und diese verfluchte Reise hatte uns alle in die Knie gezwungen, aber man braucht’s auch nicht zu übertreiben, schließlich waren wir in Leningrad! Ich war auch todmüde, aber ich muß mindestens eine Stunde am Fenster gestanden haben, so schön war das, die ganze Stadt völlig verschneit. War das gar nichts, ich meine, hat man so oft Gelegenheit, gewisse Dinge zu empfinden?
Heute morgen haben wir ein wenig die Stadt besichtigt, während Papa Leute aufsuchte. Der Führer hat uns von einem Baudenkmal zum andern geschleppt, ein zahnloser Typ, zum Kotzen, ich hab überhaupt nicht hingehört, was er erzählt hat. Ich weiß nicht, ob das an ihm lag, aber diese Erregung wie in der Nacht davor habe ich nicht mehr verspürt, höchstens eine Minute lang am Ufer der Newa, in dem diffusen Licht dort und dem eisigen Wind, der vom Meer kam, aber dieser Blödmann hat uns zur Eile gedrängt, und dann war alles wie weggeblasen.
Vor der Kirow-Oper haben wir auch angehalten. Natürlich werden wir dort nicht tanzen. Aber wenn alles wie geplant läuft, soll uns an einem der nächsten Abende Leonid Jacobson zusehen, und davor haben alle schon einen Mordsschiß. Papa kam aus dem Theater, als wir ins Hotel zurückkehrten. Er war nicht gerade begeistert, die Bühne sei nämlich ein wenig schief, sagte er, wir müßten aufpassen. Außerdem sei die Beleuchtung alles andere als ideal, da müßten wir noch etwas finden. Aber jeder wußte, warum er so nervös war.
Am Nachmittag hatten wir einen Kurs, danach haben wir geprobt. Er sagte, wir hätten noch nie so schlecht getanzt, und der erste Abend werde eine Katastrophe. Zu allem Überfluß hat sich Elisabeth den Knöchel verstaucht, und ich dachte schon, er fällt tot um. Er stieß Jérémie und Spaak, die herbeigelaufen waren, zur Seite und nahm die Sache selbst in die Hand. Dazu muß man sagen, daß wir im Sinn-Fein-Ballett keine zig Solotänzerinnen haben. Wenn Elisabeth während einer Tournee ausfällt, können wir gleich nach Hause fahren. Rebecca und Olga sind nicht schlecht, aber Elisabeth ist doch ein anderes Kaliber. Wenn sie wollte, wäre sie morgen bei ihrer Freundin Violette in New York. Als sie jünger war, hat sie in der Pariser Oper getanzt, in der Mailänder Scala, in Stuttgart und in allen wichtigen Städten. Zum Glück hat sie diese Art Liebesgeschichte mit Papa, die Einzelheiten kenne ich nicht genau, aber soviel ich weiß, hat sie nach dem Tod von Henri-Johns Vater alles aufgegeben, und Papa hat sich um sie gekümmert. Ich habe jedoch nicht den Eindruck, daß sie jemals miteinander geschlafen haben (überdies hat Spaak die Sache durcheinandergebracht, ich dachte nämlich, sie liebt keine Männer, aber vielleicht habe ich mich da getäuscht). Es ist bald sechzehn Jahre her, daß sich die beiden bei Madame Rousane begegnet sind, zur gleichen Zeit wie Violette und Béjart. Papa hat ihre Hand gehalten, als sie von Henri-John entbunden wurde, und einige Monate
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