Pergamentum – Im Banne der Prophetin: Roman (German Edition)
aufgeschlagenes Buch. Elysa nahm es auf und studierte den Titel: Liber subtilitatum diversarum naturarum creaturarum – es war die Schrift über die Feinheiten der verschiedenen Naturen der Geschöpfe, Hildegards großes Heilkundewerk, von dem Jutta berichtet hatte.
Aufmerksam blätterte Elysa die Seiten durch. Es gab allerlei Rezepturen und Heilanweisungen, ebenso die Lehre von den Säften und den Elementen, die sich auch in den Temperamenten der Menschen widerspiegelten. Hier war alles nachzulesen, was es über Mensch, Tier, Pflanze und Gestein zu sagen gab. Nichts wurde ausgelassen. Mit gerötetem Gesicht überflog Elysa die Beschreibung der Geschlechtsorgane und die eingehenden, wenngleich nüchternen Erläuterungen zur Fleischeslust von Weib und Mann.
Doch nirgends ein Hinweis auf die Lingua Ignota . Kein nachträglich eingefügter Text, keine eingeschobenen Blätter. Enttäuscht legte Elysa die Handschrift zurück und wandte sich wieder dem Raum zu. Sogleich lenkte der Braten ihren Blick wieder auf sich. Sie seufzte ergeben.
Es wäre ja nur ein kleines helles Stück Fleisch, unter dem Häutchen hervorgezogen, damit niemand es bemerkte. Sie sehnte sich danach, es in seiner Saftigkeit zu zerkauen, den Geschmack von frisch gebratenem Fleisch in ihrem Munde zu spüren.
Elysa sah nach draußen, und nachdem sie sich vergewissert hatte, dass sich niemand auf dem Weg zur Krankenstube befand, beugte sie sich über den Braten, trennte die Haut an der Unterseite auf, hob sie an und nahm einen breiten Streifen, den sie sich dann hastig in den Mund schob.
Ein köstlicher Geschmack durchzuckte ihren Gaumen – satt und fett und zugleich überraschend kräftig. Würzte man das Fleisch für die Kranken mit Kräutern, um ihre baldige Genesung voranzutreiben?
Sie widerstand der Versuchung, noch ein Stück herauszuklauben, und sog stattdessen gänzlich unfein an ihrem fetttriefenden Finger, als eine Stimme sie herumfahren ließ.
»Wo in Gottes Namen hast du gesteckt?« Jutta stand in der Tür und musterte sie voller Groll.
Elysa zuckte die Schultern, während sie um eine Erklärung rang.
»Ida hat nach dir gefragt«, fuhr die Medica schroff fort. »Sie war äußerst ungehalten. Sie hat deine Anwesenheit während der Prim vermisst. Warst du nicht dort, wie ich dir geheißen habe?«
»Nein, ich …«, stammelte Elysa.
Das zarte Band, das sich zwischen der Medica und ihr gesponnen hatte, war jäh zerrissen. »Du hättest beten können, Anwärterin, beten für unsere arme Schwester, die darniederliegt und denBeistand Gottes vonnöten hat. Aber Schluss jetzt mit diesem Gerede! Schwester Ida erwartet dich.«
Noch im selben Moment, als Elysa den Kreuzgang betrat, wusste sie, dass sie eine Begegnung mit der Hüterin tunlichst vermeiden sollte. Ungehorsam war freilich ein übles Laster, doch was hatte ihr der bedingungslose Gehorsam geholfen, damals, als der Priester ihre Mutter gezüchtigt und sie den Mut nicht gefunden hatte, ihm Einhalt zu gebieten?
Nein, Elysa wollte Ida nicht erlauben, ihre Schreckensherrschaft auch an ihr auszuüben. Es war ohnehin alles verloren, man würde sie zur Rechenschaft ziehen, denn zweifellos hatte die blinde Nonne sie gestern Nacht erkannt. Warum also sollte sie sich der Geißel aussetzen, die nun unweigerlich kommen würde, nun, da sie nicht zur Prim erschienen war?
Sie würde sich dem Willen der Hüterin widersetzen, denn es war höchste Eile geboten, bevor noch mehr Schreckliches geschah. Alles hatte mit diesem Stück Pergament seinen Anfang gefunden. Sie musste rasch zurück in die Krypta und weiter danach suchen.
Der Kreuzgarten lag friedlich, trotzte dem Unwetter mit gottgefälliger Ruhe. Die Nonnen hatten sich in den Schutz der Gebäude zurückgezogen, niemand war zu sehen. Elysa schritt rasch entlang der Arkaden zum südlichen Portal und schlüpfte durch die Seitentür in das Kircheninnere.
Das Gotteshaus war leer, der Boden überzogen von Pfützen. Noch immer drang Hagel durch das offene Dach des Seitenschiffs, doch die Körner hatten an Größe abgenommen.
Vor dem Altar des heiligen Rupertus brannte eine Kerze. Hatte sie gestern dem Flackern des Windes nicht standhalten können, so regte sie nun kein Lüftchen.
Eilends lief Elysa zur kleinen Holztür im Querschiff, rückte dieStatue beiseite und schob den Riegel zurück. Während sie die Fackel aus dem Halter nahm und sie an der Kerze entzündete, verspürte sie ein Rumoren in ihrem Magen. War es die Anspannung, die sich nun
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