Pfad der Schatten reiter4
nur, dass er dorthin reisen musste, und wenn er zurückkehrte – falls er zurückkehrte –, würden Zacharias und Lady Estora längst verheiratet sein.
Doch zunächst hatte er eine lange Nacht vor sich.
EINE GUTE TAT
Obwohl die Rabenmaske »tot« war, erhielt Amberhill sein Training aufrecht, strich nachts durch sämtliche Stadtviertel und versank lautlos in den Schatten. Er belauschte die Menschen auf den Straßen und hörte den Tratsch über Zacharias’ Verlobung mit Lady Estora, sowie Gerüchte über eine allmählich wachsende Dunkelheit in der Welt, die die Leute beunruhigte. Er beobachtete vorbeiflanierende Liebespaare, die einander Worte zuflüsterten, wie sie nur Liebende aussprechen.
Überwiegend hörte er in der Nacht das Jammern des gemeinen Volkes über das Wetter und den Getreidepreis. Trotzdem war ihm dies lieber als seine Träume über die pausenlos heranrollenden Wellen und den Ruf des Meeres, ein Ruf, der nicht nachließ, bis er ihm wehtat.
Er atmete tief ein, als der pochende Schmerz in ihm wuchs, und dann nochmals, bis er aufhörte. Eingehüllt in einen schwarzen Kapuzenumhang, stand er im Schatten am Rand eines halb geschlossenen Platzes. Nur wenige Menschen waren um diese Zeit noch unterwegs, zumeist Betrunkene und Obdachlose. Durch die schmutzigen Fenster der Herberge Hahn und Henne fiel schwaches Licht. Gerüchte hatten ihn hierher in die Unterstadt geführt, Gerüchte über ein Paar übel beleumdeter Männer, die die Kneipen und Herbergen mit dem schlechtesten Ruf besuchten. Die Einzelheiten, die er über sie gehört hatte, erschienen ihm vertraut.
Während er beobachtete und wartete, kündigte Hufgetrappel einen Mauleselkarren auf dem Kurvenweg an. Er wurde von einem Mann gelenkt, der sich tief über die Zügel beugte und sie mit beiden Fäusten umklammerte. Die Räder knarrten und wackelten, als würde das ganze Gefährt jeden Augenblick zusammenkrachen. Der Maulesel sah keineswegs besser aus, er war unterernährt und sein Rückgrat durchgebogen. Der Mann brachte den Maulesel vor der Herberge Hahn und Henne zum Stehen. Nachdem er die Bremse festgezogen hatte, kletterte er übertrieben vorsichtig vom Karren herunter. Seine Glieder schüttelten sich und zuckten unkontrolliert.
Kaum hatte er die Füße auf den Boden gesetzt, bogen zwei Schläger – leider nicht die, auf die Amberhill gewartet hatte – um die Ecke der Herberge. In verschiedenen Gerüchten, die Amberhill gehört hatte, spielten diese beiden eine große Rolle, denn sie suchten unprovoziert Streit und beraubten die Schwachen. Wahrscheinlich waren sie dem alten Mann schon eine Weile gefolgt, um ihre Beute abzuschätzen. In Anbetracht des Zustandes, in dem sich Karren und Esel befanden, dürfte es ihnen nicht schwer gefallen sein, mit ihm Schritt zu halten.
»He, Alter«, sagte der eine und stolzierte auf den Karren zu. »Was hast du für uns?«
»Geht weg«, sagte der Mann. »Ich habe nichts.«
Der zweite Schläger blickte in den Karren. »Nicht viel drin«, sagte er, »aber sieh dir diesen Bogen an.« Er nahm einen Langbogen aus dem Karren.
»Lass das liegen!«, rief der alte Mann.
»Was hast du sonst noch?«, fragte der erste Schläger.
»Nichts, sage ich! Gib mir meinen Bogen.« Er griff mit zitternder Hand danach, aber der zweite Schläger hielt ihn knapp außerhalb seiner Reichweite fest und lachte.
Amberhill sah ein Messer aufblitzen, das der erste Kerl aus seinem Gürtel zog.
»Hast du Geld, Alter?« Er ließ das Messer vor dem Gesicht des Alten tanzen.
Amberhill wusste, dass es diesen Subjekten nichts ausmachte, den Mann aus reinem Spaß zu töten, und das passte ihm nicht, also stürzte er mit bauschendem Umhang aus seinem Versteck. Mit einer Bewegung, die für ihn so natürlich war wie das Atmen, zog er seinen Degen.
»Verschwindet«, sagte er.
»Wer ist das denn?«, fragte einer der Schläger unbeeindruckt.
»Ich habe euch zum Gehen aufgefordert, aber ihr wollt offenbar nicht hören.«
Der Räuber öffnete den Mund, um zu sprechen, aber bevor er auch nur eine Silbe äußern konnte, zischte Amberhills Degen über seinen Handrücken und das Messer fiel klirrend zu Boden. Der Räuber fluchte und hielt seine blutende Hand. Amberhill wirbelte gerade rechtzeitig herum, um dem anderen Räuber ebenfalls ein Messer aus der Hand zu schlagen. Er drückte die Degenspitze gegen den Hals des Räubers.
»Gib den Bogen seinem Besitzer zurück.«
»Schon gut, schon gut. Sei bloß vorsichtig mit der
Weitere Kostenlose Bücher