Pfad der Schatten reiter4
eines Herrenhauses erklomm und das Schlafgemach einer Dame betrat, um ihr ihre Juwelen und vielleicht auch andere Dinge zu rauben, während ihr Ehemann im Nebenzimmer schlief.
Ja, das war es. Die Gefahr, die Erregung.
Aber es war noch mehr.
Ein Licht flackerte plötzlich im obersten Zimmer der Herberge Hahn und Henne – vielleicht im Speicher –, und jemand lief dort herum. Galen Miller? Amberhill hätte den alten Mann hier auf der Straße den Räubern überlassen können. Es hatte eine Zeit gegeben, in der er das wahrscheinlich getan hatte. Aber jetzt? Er schüttelte den Kopf. Es hatte ihn erregt, die Schläger zu verjagen, obwohl sie keine wirkliche Herausforderung gewesen waren, und die Dankbarkeit des alten Mannes hatte ihm gefallen. Ja, das hatte ihm gefallen.
Vielleicht war auch dies ein kleiner Schritt zur Sühne. Amberhill konnte das Unrecht, das er Lady Estora angetan hatte, niemals ungeschehen machen, und die Auswirkungen dieses Unrechts weiteten sich auf ihre Familie und ihren Klan aus, und von da aus bis zum König und über das ganze Reich, und die Untat wurde hundertfach vergrößert. Aber zumindest konnte er Schritte unternehmen, um vor sich selbst zu sühnen.
Davon abgesehen konnte man nie wissen, welche Folgen eine gute Tat nach sich zog. Vielleicht würde Galen Miller seinerseits irgendjemandem zu Hilfe kommen. Amberhill lächelte bei diesem Gedanken.
PERLEN UND KNOCHEN
Amberhill hielt bis in die frühen Morgenstunden Wache und hörte die Stadtglocken die jeweilige Stunde schlagen. Die Gäste der Herberge Hahn und Henne kamen und gingen in verschiedenen Stadien der Trunkenheit. Er gähnte und dachte, er hätte vielleicht die Gerüchte falsch interpretiert und sollte es am besten für heute dabei bewenden lassen und zu Bett gehen, aber gerade in diesem Augenblick stolperten zwei Männer die Straße herauf und hielten auf die Herberge zu.
Im Licht der Straßenlaternen sahen sie unförmig aus, und Amberhills Nüstern weiteten sich wie die seines Hengstes, wenn er einen unangenehmen Geruch witterte. Den Gestank von verrottetem Fisch, gepökelter Leber und jahrealten Schmutz. Er war ihm vertraut. Sehr vertraut.
Die beiden schwankten hin und her, Arm in Arm, als befänden sie sich an Bord eines Schiffes in unruhigen Gewässern. Sie sangen mit ihren rauen Stimmen, falls man das so nennen konnte, undeutlich und falsch. Sie steuerten auf die Herberge Hahn und Henne zu, und Amberhill fragte sich, ob selbst dieses eher zweifelhafte Etablissement dieses Paar willkommen heißen würde.
Er musste sie nicht aus der Nähe sehen, um zu wissen, dass er an jenem Herbstmorgen auf der Lichtung des Grünmantelwaldes nicht alle Piraten Kapitän Bonnets getötet hatte. Den Gerüchten nach wanderten diese beiden jede Nacht von einer
Kneipe zur anderen, soffen gallonenweise Rum und Bier und versuchten, Huren zu bekommen, aber keine Frau wollte sie bedienen. Piraten verirrten sich selten so weit ins Landesinnere, und aufgrund ihrer spezifischen Abscheulichkeit, ganz abgesehen von ihrer zerrissenen Kleidung und ihren nackten Füßen, hatte Amberhill kaum Zweifel, wer sie waren.
Er wurde von ihnen angezogen wie eine Ameise vom Honig. Er hatte Fragen …
Er trat aus den Schatten und stellte sich ihnen in den Weg, bevor sie die Tür zur Herberge erreichten. Stolpernd blieben sie stehen, der eine immer noch singend, bis sein Kumpan ihn in die Rippen stieß.
»Wasnlos?«, fragte der Sänger. Er war klein und rundlich. Das schwache Licht der Herberge spiegelte sich in seinen zerkratzen Brillengläsern.
»Jemand ist uns im Weg«, antwortete der andere. Dieser war groß und dünn und trug, wie Amberhill bemerkte, einen Säbel an der Hüfte.
»Was will er denn?«, fragte der Sänger.
»Weiß nicht.«
»Ich möchte wissen«, sagte Amberhill leise, »ob ihr dies erkennt.« Er streckte seine Hand aus, damit sie den Drachenring sehen konnten. Der Rubin funkelte im Lichtschein und wurde zu einem roten Feuer, das auf seinem Finger loderte. Die Piraten erstarrten.
»Das gehört Kapitän Bonnet«, sagte Großunddünn.
»Das bedeutet…«, begann Kleinundrund. Beide starrten Amberhill an. »Der Käptn. Wo ist er? Wir haben ihn im Wald verloren.«
»Tot«, sagte Amberhill. »Sehr tot. Genau wie seine Mannschaft.«
Die beiden Piraten sahen einander mit weit aufgerissenen Augen an. »Du hast sie getötet!«, schrie Großunddünn.
»Ich hatte zu dem Zeitpunkt keine andere Wahl. Es konnte nur einer überleben, er
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