P.M. Manetti lesen oder Vom Guten Leben
immer seltener in Zürich und habe dann 1999 beschlossen, endgültig Brasilianer zu werden und mich auf definitive Weise zu verabschieden. Nach der Expo.02, die ich inkognito besucht habe, weil sich Elsa engagiert hatte, ist mir klar geworden, dass euer Land noch lange nicht aus der Sackgasse herausfinden würde. Es war eine jämmerliche Veranstaltung.Mehr als ein paar Gags, spitzfindige Kuriositäten, plumpe Anspielungen auf die Klimakatastrophe, ironische Verarschungen bot sie nicht. Ein Land verspottet sich selbst. Mit einem Bruchteil des Budgets hätte man in andern Ländern etwas Brauchbares aufbauen können. Ich engagierte mich voll hier in Alívio. Eines Tages schlug Elsa mir vor, all die Enttäuschten und Desillusionierten doch einfach zu einem Erholungsaufenthalt nach Alívio einzuladen. Sie sagte, dass ihr Ferien verdient hättet. Die Frage war: Wen einladen? Wie einladen? Da schlug Thomas ein Buch vor. Elsa kam auf die Idee mit den gefälschten Notizbüchern. Den Rest kennt ihr. Die Notizbücher fanden die richtigen Adressaten. Ich habe die Kontaktnummer in Band 11 versteckt. Wir hatten eine Deadline abgemacht. Die meisten haben sich rechtzeitig gemeldet. Nur einige kamen etwas zu spät, am spätesten kam Paul. Eigentlich zu spät. Aber er hat nicht locker gelassen. Er hat nicht einmal die Notizbücher gelesen. Er hat sie ins Meer geworfen, und ein Hai hat sie gefressen!«
Staunen, Lachen.
»Damit ist das Thema erledigt. Jetzt schauen wir nur noch vorwärts. Es lebe Alívio!«
Damit waren alle einverstanden. Roberto umarmte mich noch einmal öffentlich, alle, die zu mir durchkommen konnten, stießen mit mir an.
»Lieber spät als nie«, sagte Susanne.
»Wer zu spät kommt, den belohnt Roberto«, meinte Rita.
Es war mir peinlich, so im Mittelpunkt zu stehen. Ich hatte Robertos Rede nicht verstanden: Warum brauchten wir Ferien? Warum gerade wir? Alle brauchten doch Ferien. Ich wollte sofort abreisen. Ich war am falschen Ort. All das war ein gigantisches Missverständnis.
Als ich Roberto später darauf ansprach, antwortete er: »Natürlich hast du recht. Ich sage ja nicht, dass ihr es im Leben besonders schwer hattet. Andere hätten einen Urlaub eher verdient. Ich hatte ganz einfach Lust, etwas euch zuliebe zu tun. Kannst du das akzeptieren?«
»Sehen wir so erbärmlich aus?«
»Schon. Ihr braucht Erleichterung, Ermutigung, einen neuen Schwung.«
»Wer ist
ihr
?«
Doch Roberto war schon weiter. Er richtete nun einige Worte auf Portugiesisch an die Apéro-Versammlung. Dabei zeigte er immer wieder auf einen gewissen Paulo, was die Leute zu heftigen »Paulo, Paulo!«-Sprechchören veranlasste. Gleich würde ich ein Tor schießen.
Ich stand dumm da. Was war das für eine Veranstaltung?
Ich entdeckte laufend weitere bekannte Gesichter, darunter Andreas aus Berlin, Sofia aus Bern und Walter aus Zürich. Heinz Nigg stand mit Paul Riniker zusammen, wahrscheinlich heckten sie ein Filmprojekt aus. Nicht weit von ihnen konversierten Josef Estermann und Stefan Howald. Nora Nauer stellte mir Monika Fehr, Cornelia Bernasconi und Lea Baur vor, deren Namen in der frühen Phase unserer Nachforschungen gefallen waren.
»Ich wusste gar nicht, dass du eigentlich Hyazinth heißt«, eröffnete Nora das Gespräch.
»Ich heiße ja auch nicht Paul«, gab ich gerne zu.
»Und, wie findest du es hier?«, fragte Cornelia.
»Ich bin noch zu verdattert, um irgendetwas mitzubekommen. Offensichtlich ist eine Kleinstadt im Mato Grosso ein beliebtes Ferienziel für eine gewisse Szene geworden. Lauschiger Hauptplatz.«
»Das ist nicht irgendeine Kleinstadt«, versicherte mir Lea, eine zierliche Frau mit rundem Gesicht und kurzen braunen Haaren, »morgen machen wir eine Führung durch die Gärten, die Felder, die Ställe, die Verarbeitungsbetriebe.«
»Wir haben eine ganz tolle Agronomie hier«, bestätigte Cornelia.
»Wir?«
»Naja, die Alivicom, Robertos Firmenkonglomerat«, präzisierte Cornelia.
»Und wegen einer Betriebsbesichtigung hat man mich zuerst an der Nase herumgeführt und dann entführt?«, entfuhr es mir.
»Du weißt ja, warum«, korrigierte mich Nora.
»Und euch geht’s allen ganz prächtig hier.«
»Ja«, erwiderte Nora, »das Verschwinden hat sich gelohnt. Alívio ist ein bescheidener, aber inspirierender Ort, und seine BewohnerInnen sind ganz liebe Gastgeber.«
»Schade, dass wir irgendwann wieder nach Hause müssen«, seufzte Cornelia.
»Ich bleibe«, stellte Lea klar.
»Sie hat alle Hände voll
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