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P.M. Manetti lesen oder Vom Guten Leben

P.M. Manetti lesen oder Vom Guten Leben

Titel: P.M. Manetti lesen oder Vom Guten Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
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wann? – Gibt’s noch weitere Leser?«
    »Nur Cornelia Bernasconi, Assistentin an der ETH. Ich versuch’s mal.«
    »Jetzt können wir allmählich beginnen, Wetten abzuschließen«, knurrte ich.
    »An der ETH arbeitet keine Cornelia Bernasconi. Irgendwie wird das unheimlich. Und das ist jetzt nur eine zufällige Suche.«
    »Manetti-Leser verschwinden nicht sofort, sondern in der Regel erst nach einigen Monaten – was geschieht in dieser Zeit, das ist die Frage.«
    »Sie lesen Manetti zum zweiten Mal.«
    »Genau, und dann passiert etwas. Aber was?«
    »Sie finden etwas Einschneidendes. Aber erst beim zweiten Mal. Was könnte Menschen bewegen zu verschwinden?«
    »Es gibt immer Push and Pull«, sagte ich, »etwas vertreibt sie, oder etwas zieht sie an. Und wenn beides nicht funktioniert, schnappen sie über.«
    »Wir haben erst einen Übergeschnappten«, wandte Nora Nauer ein.
    Aber viele Eingeschnappte, dachte ich.
    »Wir müssen weitersuchen. Wir müssten bei psychiatrischen Kliniken nachfragen.«
    »Im Stil von: Haben Sie Klienten aufgenommen, die über das Lesen von Manetti berichten? Das Arztgeheimnis könnte uns einen Strich durch die Rechnung machen.«
    »Sie sind die Journalistin, Sie finden Dinge heraus.«
    »Klar finde ich das heraus. Es gibt Statistiken. Ich finde sicher weitere Manetti-Leser. Sie wären ja auch einer.«
    »Sie wollen mich als Versuchskaninchen benützen?«
    Sie lachte. »Logisch: Sie lesen Manetti, und ich beobachte Ihre Veränderungen.«
    »Oder ich Sie. Sie sind ja schon weiter in der Lektüre – da sparen wir ein paar Wochen.«
    »Jedenfalls habe ich weder Haarausfall, noch Ausschläge, noch Nachtschweiß.«
    »Es wird mehr psychisch sein. Vielleicht reprogammiert Manetti etwas im Unbewussten.«
    »Meinen Sie Hypnose?«
    »Auf jeden Fall liegt es im Text, in der Struktur. Und zwar nicht in der Textoberfläche, sondern im Subtext. Ein Text ist nicht nur ein Text. Er verändert zuerst etwas, und dannverändert er diese Veränderung. Es gibt viele Prozesse, die erst als Wiederholung funktionieren.«
    »Zum Beispiel?«
    Ich war zu müde, um Beispiele zu finden.
    »Krafttraining«, schlug sie vor, »ein Mal ist kein Mal. Oder Hefekuchen. Man muss sie erst gehen lassen und dann nochmals kneten.«
    »Das mit der Hefe gefällt mir«, murmelte ich.
    »Vielleicht ist es auch so etwas wie eine Inkubationszeit«, schlug sie vor.
    Entweder schlief ich nun ein, oder ich versuchte mich die ganze Nacht lang wach zu halten.
    »Ich hatte einen anstrengenden Tag«, sagte ich, »ich bin heute – gestern – Morgen früh aufgestanden. Ich glaube, ich schlafe etwas.«
    Sie bediente ihr iPhone. »Gut. Ich forsche inzwischen weiter.«
    Ich mühte mich immer noch ab, Beispiele für doppelte Prozesse zu finden, aber mein Gehirn arbeitete nicht mehr. Ich sah noch Twiddle-Dee und Twiddle-Dum und döste dann ein.
    Ging es um Duplizität, um Zwiefalt gegen Einfalt? (Duplicity hat im Englischen eine eindeutig negative Bedeutung: Falschheit, Verschlagenheit, Hinterhältigkeit.)
    Wenn man faltet, dann geschehen merkwürdige Dinge. Faltet man ein Papier, so erreicht man verblüffend schnell eine Dicke, die bis zum Mond reicht. Beginnt man zu falten, dann fällt man ins Unendliche. Cantor, der Mathematiker, vermochte verschieden große Unendlichkeiten zu unterscheiden – dank der Mengenlehre. Er ist dann aber übergeschnappt. Gödel ging es auch nicht viel besser. Nicht mal die Faltungsregeln waren konsistent. Wenn man die Einfalt verliert, verliert man schnell alles, und sich selbst. Oder die Alpenfaltungen. Die Falten im Gesicht. Die Falter.

8.
    »Wir müssen aussteigen«, sagte eine weibliche Stimme zu mir.
    Eine Hand schüttelte mich an der Schulter: »Marseille, aussteigen!«
    Ich torkelte aus dem Zug auf einen leeren Bahnsteig. Es war kühl, aber nicht kalt, dafür feucht.
    »Wir haben einen Zug um acht Uhr dreißig«, gab Nora Nauer bekannt, die aufdringlich frisch wirkte, »wir haben noch Zeit für einen Kaffee.«
    Im Bahnhofsbistro setzte ich mich benommen hin. Sie brachte Kaffee und Croissants.
    Man sprach französisch – ich fühlte mich angenehm fremd.
    »Was genau machen wir jetzt?«, fragte ich.
    »Wir nehmen einen Zug nach Aix, dann einen Bus nach Apt und dann holt uns Christian Vischer ab mit seinem Citroën.«
    Allmählich kam ich wieder ins Bild. Rita Vischer war verschwunden. Aus irgendwelchen Gründen bekümmerte uns das, und wir hatten die Mission, sie und andere zu finden. Manetti hatte einen

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