P.M. Manetti lesen oder Vom Guten Leben
Christian ein Bett in einem Gästezimmer an, wo ich sofort einschlief.
10.
Während ich schlief, arbeiteten die beiden Frauen durch. Abends stellten sie die Resultate ihrer Recherchen vor. Sie hatten eine Art Leserstammbaum ausgedruckt, der auf die Urleserin Elsa, den Erstleser Thomas Schneider und EgonAmmann selbst als schnellen Überflieger zurückging. Der Stammbaum umfasste zwar erst etwa hundert Leser, aber die Schlussfolgerungen waren mehr als klar: Wer Manetti nur einmal gelesen hatte, blieb der Gesellschaft erhalten, wer ihn zwei Mal gelesen hatte, endete entweder im Irrenhaus oder verschwand, wobei die meisten verschwanden, und nur zwei Fälle von Einweisungen in psychiatrische Kliniken gesichert waren, darunter Marcel Lüthi. Diese Theorie ließ noch Ausnahmen zu, weil nicht alle Verschwundenen definitiv als verschwunden gelten konnten und weil noch einige Tausend Leser gar nicht erfasst waren. Es musste Tausende geben, bei denen Manetti überhaupt nichts auslöste. Sie waren sozusagen immun.
Die Fragen, die sich nun stellten, waren offensichtlich: Warum verschwanden sie? Was gab es in Manetti, das einen zum Verschwinden anregte? Was stand in Band 11? Wohin verschwanden sie? Und: Waren sie nur verschwunden oder vielleicht entführt worden, oder gar tot? Die letzte Frage plagte Christian am meisten.
Jeannine und Nora schlugen die nächsten Schritte vor: Ich sollte mit Christian nach Zürich fahren, Band 11 aus meinem Manetti holen, Marcel Lüthi in der Klinik besuchen und dann den beiden Frauen nach Berlin folgen, wo sie Thomas Schneider zu finden hofften. Christian musste zurück an seine Schule, würde aber als Operationsbasis in Zürich dienen, wo Gina, Manuela, Fjodor und Renée (alles Freunde von Jeannine und Nora) weitere Nachforschungen anstellen sollten. Die Polizei wollte man, so gut es ging, aus dieser Sache heraushalten.
Jeannine und Nora hatten schon Flüge von Marseille nach Berlin für den folgenden Tag gebucht. Christian würde sie zum Flughafen bringen und dann mit mir zusammen nach Zürich fahren.
Da nur Nora wenigstens einen Teil der Notizbücher gelesen hatte, baten wir sie, uns zu berichten. Vielleicht konnten wir so verstehen, was Leser zum Verschwinden trieb.
Während wir die Reste des Mittagsimbisses verzehrten,referierte Nora. Hie und da hielt sie uns einen der Bände hin, damit wir erwähnte Stellen nachschlagen konnten.
»Ich muss euch warnen«, sagte sie am Anfang, »was wir hier tun, ist kein richtiges Manetti-Lesen. Die Wirkung entfaltet sich nur in der Einsamkeit und in der vollen Immersion. Aber probieren kann ich’s ja. Ich bin allerdings nicht weiter als bis zu den frühen achtziger Jahren gekommen. Sein Hauptthema ist, dass, obwohl es damals viele heiß diskutierte Themen gab – Drogen, bewaffneter Kampf, Atomkraftwerke, Iran – der Lauf der Dinge einfach über alles hinwegrollte. Es gab immer eine Kraft, die stärker war als all diese Aufregungen.«
»Ich nenne das den normalen Kapitalismus«, warf Christian ein, »sogar seine Krisen waren kaum mehr als kleine Wellen an der Oberfläche. Eine Rezession heißt höchstens, dass das Ding einmal etwas weniger wächst – 99 Prozent seiner Aktivitäten bleiben unberührt.«
»Ja, Manetti nennt das die Grunddepression, die Schwerkraft des Lebens. Nach einem gewissen Schwung, der in den sechziger Jahren entstanden war – oder den man ihnen mythologisch im Nachhinein zuschrieb –, setzte sich in den siebziger Jahren die Erkenntnis durch, dass du, egal was du machst, schon verloren hast. Im Verlieren gibt es dann verschiedene Überlebensvarianten: Du kannst dein Privatleben optimieren, du kannst dir kleine Nischen schaffen, du kannst dem System ein paar Schnippchen schlagen, du kannst dich abmelden, du kannst Modalitäten verändern, du kannst Zeichen setzen. Je nachdem endest du bei den Sozialdemokraten, als Junkie, als Terrorist, als Bobo, als Hippie auf dem Land, als simpler Karrierist. 1983 erschien Sloterdijks
Kritik der zynischen Vernunft
– Manetti bezieht sich ausführlich darauf.«
»Ich erinnere mich gut an Sloterdijk«, sagte ich, »er war damals eine Wohltat. Manche empfanden ihn als demobilisierend, aber das stimmte nicht. Er motivierte viele, die die Schwerkraft des Systems entdeckt hatten, weiterzumachen, unter dem Slogan: Wir haben keine Chance, nutzen wir sie!«
»Das war aber kaum der Slogan der RAF oder der Roten Brigaden«, wandte Jeannine ein, der man eine gewisse Irritation ansah.
»Nein, die
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