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P.M. Manetti lesen oder Vom Guten Leben

P.M. Manetti lesen oder Vom Guten Leben

Titel: P.M. Manetti lesen oder Vom Guten Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
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waren ein ziemliches Ärgernis«, erklärte ich, »sie legitimierten sich immer wieder, indem sie darauf hinwiesen, dass die militärischen Träger der Schwerkraft in Vietnam, in Chile, in Nicaragua usw. töteten. Der Kapitalismus war kein ziviles Phänomen des friedlichen Tauschs von Äquivalenten – so wie er bei Marx beschrieben ist –, sondern eine Maschine, die tötete, folterte, einsperrte. Wer also zurückschoss, hatte Recht, man konnte es ihm nicht wirklich vorwerfen. Und das taten wir auch nicht. Das Ärgernis lag auf einer andern Ebene: auf einer taktisch-pragmatischen, und auf einer inhaltlichen. Wir wussten, dass man auch dann nicht gewinnen konnte, wenn man sein Leben einsetzte und das Leben anderer opferte. Der westeuropäische Terrorismus war daher rein propagandistisch, er setzte Zeichen. Aber die funktionierten bei den meisten Leuten überhaupt nicht. Es war Schmidt, der triumphierte, nicht die RAF. Es war der gewöhnliche Sozialdemokratismus, der nächste VW Golf, die Ferien in Italien, die siegten. Was die Inhalte betraf, so waren die Kommuniqués der RAF, und vor allem der Brigate Rosse, noch peinlicher. Wenn es nicht hohle Phrasen waren, dann lief es eigentlich auf einen ganz gewöhnlichen Staatskapitalismus heraus, der die Arbeitereinkommen sichern sollte. Man hatte keine Zeit für Utopien, weil man sich Waffen beschaffen und den nächsten Anschlag planen musste. Schließlich konnte man sich nur noch für bessere Haftbedingungen einsetzen. Statt politischer Resultate hatte man höchstens zusätzliche Sorgen. Man übte sich darin, ein ohnehin kompromittiertes System moralisch zu blamieren. Sartre kam auf Besuch in Stammheim. Das ganze Theater.«
    »Das ist jetzt aber ziemlich zynisch«, brummte Jeannine.
    »Da siehst du, wie du in die Falle geraten bist«, gab ich zurück.
    »Es gibt doch auch eine menschliche Ebene«, meinte sie.
    »Man muss sich nicht zwischen politischer Einsicht undmenschlicher Ebene entscheiden«, half mir Christian, »es ist unmenschlich, eine falsche Politik zu machen. Und eine falsche ist immer eine, die nicht nur keine Verbesserungen, sondern sogar Rückschritte produziert. Und das geschah in den frühen achtziger Jahren.«
    »Der Lauf der Dinge walzte alles platt«, fuhr Nora fort, »schließlich sogar den regionalen Ausnahmekapitalismus in Osteuropa, der sich mit marxistischen Etiketten getarnt hatte. Das war allerdings nicht die Schuld der Terroristen – da würde man sie grandios überschätzen. Der sogenannte konservative Backlash der Achtziger war nicht ein Resultat einer gekippten Stimmung, er ergab sich ganz aus der Logik der damaligen wirtschaftlichen Verkrampfungen und Zuckungen – Manetti verwendet das Wort Krise nie.«
    »Krise würde bedeuten, dass Entscheidungen fallen«, sagte Christian, »aber das tun sie nie – wenigstens nicht grundsätzlich. Krisen gehören zum Lauf der Dinge. In einem gewissen Sinn ist der Kapitalismus nichts anderes als eine sich permutierende Dauerkrise, seit seinem Anfang. Gute Zeiten – schlechte Zeiten: Was soll’s?«
    Nora seufzte. »Danke, Herr Professor. Manetti weist darauf hin, dass die Einsicht in die Schwere der Dinge und der Wille, etwas grundsätzlich zu verändern, zu quälenden Dilemmata führen. Viele bekamen die Füße nicht mehr auf den Boden, viele wurden theoretisch so radikal, dass sie praktisch gelähmt waren. Und viele nahmen diese Lähmung wieder als Legitimation, sich in eine Karriere im Dienste des Systems zu stürzen. Sie rächten sich sozusagen an sich selbst für die Einsichten, die sie nicht verdrängen konnten. Nichts zu wissen, war damals echt ein Element geistiger Gesundheit. Man war verschont worden.«
    »Sagt das Manetti wirklich?«, zweifelte ich.
    »Tut er, schau hier«, versicherte Nora und hielt mir Notizbuch 3 unter die Nase.
    »›Geistige Gesundheit heißt, dass man den herrschenden Wahnsinn anerkannt hat«, las ich vor, »ist also ein Zeichen des Wahnsinns selbst.‹ Manetti ist daher ein Feind der geistigen Gesundheit – das ist für ihn ein denunziatorischerBegriff – genauso wie heute das positive Denken, oder das psychische Gleichgewicht, oder die work/life-balance und ähnliche Definitionen des angewandten Spießbürgertums.«
    Nora lachte. »Du kennst dich ja gut aus.«
    »Ich lese all diese Ratgeber. Aber auch das neuste Buch von Barbara Ehrenreich,
Bright-Sided
. Es handelt davon, dass das positive Denken Amerika unterminiert hat. Das wäre ja dann doch eine gute Sache …

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