P.M. Manetti lesen oder Vom Guten Leben
den Feind mit Lob, Kritiklosigkeit und Anerkennung aufweichen.«
»Manetti kommt zum Schluss, dass man angesichts des allgemeinen Wahnsinns eigentlich Anstalten für die Normalen bauen müsste«, fuhr Nora fort, »das ist dann praktisch seine Utopie.«
»Waren nicht auch die Bhagwans in den Achtzigern aktiv?«, fragte Jeannine.
»Na klar, Manetti besuchte den Ashram in Poona sogar selbst«, antwortete Nora, »er wurde in den Siebzigern gegründet, dann nach Oregon verpflanzt und ging 1985 unter. Die Bhagwan-Bewegung deckte die ganze Periode der zynischen Vernunft ab. Sie waren überall. Als Realsatire waren sie – verglichen mit andern Sekten – sogar relativ erträglich. Für viele war das Abtauchen in esoterische Sekten der Weg der geistigen Gesundheit angesichts des veränderungsresistenten Wahnsinns. Sie bauten sich ihre eigenen Anstalten und versorgten sich darin.«
»Alkohol, Sekten und Psychoanalyse«, murmelte Christian vor sich hin, »so überlebt man. Mit nur leichten Leberund Hirnschäden.«
»Die Leute meinten, sie lebten falsch, dabei lebten sie in einem falschen System«, erklärte Jeannine, »sie stürzten sich auf die Lebensreform, statt das System zu bekämpfen. Sie nahmen sozusagen die Schuld auf sich.«
»Es erinnert an die Flagellantenbewegungen des Mittelalters«, ergänzte Christian, »damals sah man Gott als das System.«
»Das erklärt dann auch den ab den Achtzigern zunehmenden religiösen Fundamentalismus«, sagte Nora, »Carter warschon ein Exponent der religiös Erweckten, Reagan wurde von der religiösen Rechten unterstützt. Was man nicht bekämpfen kann, das muss man anbeten. Der Washington-Consensus, das Credo der Marktwirtschaft. Der Islamismus passt da gut hinein. Allah hilft den Machtlosen. Tut er aber nicht – er verarscht sie.«
»Das ist schön gesagt«, freute sich Jeannine.
Die Sonne war schon untergegangen. Die Zikaden verfielen in Schweigen. Die ersten Fledermäuse flatterten vorbei.
Jeannine wandte sich an Nora: »Du hast vorhin das Dilemma zwischen der Einsicht in den unveränderbaren Lauf der Dinge und dem Bedürfnis, etwas radikal ändern zu wollen, beschrieben. Könnte es aber nicht sein, dass der Lauf der Dinge
zu Recht
unveränderlich ist, dass alle Alternativen dazu noch schlechter sind, ja Hybris?«
»Genau das sagten Thatcher, Reagan, Kohl und Co. Und ihre Mentoren von Mises, Hayek und Friedman. Es gibt keine Alternative. Die Reichen haben recht, es darf keine Umverteilung geben. Vermögen müssen geschützt werden. Es stimmt natürlich, dass ab einem gewissen Punkt jede Fundamentalkritik sinnlos wird – etwa dann, wenn sie keine Handlungsstrategien mehr eröffnet. Wenn man alles, was man tut, mit dem Satz ›ich bin grundsätzlich dagegen‹ einleitet, dann kann man es mit der Zeit sein lassen. Die Fundamentalkritik wird zum Ärgernis. Von da ist es nicht mehr weit, den letzten Sprung zu wagen: Sie war eine Jugendsünde, jetzt bin ich erwachsen. Die meisten Exponenten des neoliberalen Backlash haben an irgendeinem Punkt diesen Seitenwechsel vollzogen: Mitterrand, Schröder, Blair. Auch Fischer gehört dazu. Umso irritierter reagieren sie, wenn dann doch wieder Fundamentales hochkommt, wie jüngst in der Finanzkrise.«
»Der Zweifel, ob die Kapitalismuskritik richtig ist, ob nun Marx oder Hayek oder Friedman recht hatten, kam immer wieder auf«, sagte ich, »es gab echte Glaubenskrisen, auch was den Glauben an den eigenen Verstand betraf. Es lässt sich nicht bestreiten, dass der moderne Kapitalismus sozusagen natürlich gewachsen ist, darum lehnen viele den Begriffselbst ab, und nennen ihn nur Wirtschaft, oder Marktwirtschaft. Die Alternative – der Kommunismus – hingegen ist ein Produkt der Aufklärung, ein Konstrukt. Er muss gewollt werden, er erfordert eine bewusste Teilnahme, rationale, demokratische Organisation, Planung. Das macht ihn unsympathisch und verletzlich, künstlich. Es gibt zwar laufend eklatantes Marktversagen – aber dafür ist niemand verantwortlich, keine bösen Theoretiker sind schuld, keine abgehobenen Intellektuellen. Es passiert einfach – und wird notdürftig repariert, bis zum nächsten Versagen. Die neoliberale Argumentation geht dann so weit, dass jede unnatürliche Wirtschaftsform stracks zu Gulag, Parteidiktatur und Mauerbau führt. Denken sei schematisch, ertrage keine Widersprüche und ende daher in Leibeigenschaft und Diktatur. Es sei eine Anmaßung. Bescheidenheit tue not. Aber auch das habe ich jetzt ja
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