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P.M. Manetti lesen oder Vom Guten Leben

P.M. Manetti lesen oder Vom Guten Leben

Titel: P.M. Manetti lesen oder Vom Guten Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
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gerade gedacht. Die Verbannung nach Sibirien war eine alte zaristische Tradition, umgekehrt hat die Planwirtschaft in Frankreich oder der Sozialdemokratismus in Schweden zu keiner Art von Gulag oder Diktatur geführt. Und was alles ›natürlich‹ ist, brauche ich gar nicht erst zu erwähnen. Die ganze Diskussion war gar nicht rational führbar, sie war ein Teil eines ideologischen Schlagabtauschs zwischen den Apologeten des Kapitalismus und den falschen Ideologen des Kreml. Aber im Grunde ging es nur um Besitzstandswahrung. Als dann noch die Systemtheoretiker wie Luhmann kamen, und die Postmodernen, geriet alles durcheinander …«
    Ich merkte, dass ich jetzt stundenlang hätte weiterreden können. Luhmann, Postmoderne, Baudrillard, Foucault. Es war ihnen gelungen, vieles aufzulösen – danke! –, aber zusammengefügt hatten sie nichts. Wir blieben in der Luft hängen.
    »Immerhin gab es doch zu jener Zeit die Anti-AKW-Bewegung«, meldete sich Jeannine nach einer Weile, »Hunderttausende demonstrierten, in Europa und in den USA. Das kann man doch nicht einfach unter angewandtem Zynismus abbuchen. Schließlich haben wir seit der Zeit dieGrünen. Momentan sind sie sogar stark im Aufwind. Etwas muss sich doch im Bewusstsein der Leute geändert haben. Immerhin haben jüngst 76 Prozent der Zürcher für die 2000-Watt-Gesellschaft gestimmt.«
    Ich wollte schon sagen, dass Marx schon darauf hingewiesen hatte, dass die kapitalistische Produktion sowohl die Natur als auch den Menschen untergräbt (das Zitat muss ich immer wieder suchen), ließ es dann aber bleiben. Man soll nie Marx zitieren.
    »Viele Leute hatten nie etwas von den großen ideologischen Fundamentaldebatten der siebziger Jahre gehört, andere hatten genug davon«, ergänzte Christian, »und daraus entstand die Ökologiebewegung. Als dann die AKWs gebaut werden sollten, sagten sich viele: Kapitalismus für einige Jahrhunderte, das geht ja noch, aber radioaktive Abfälle für hunderttausend Jahre, das geht zu weit. Mit den AKWs positionierte sich das bisher einigermaßen gelittene System als ewig, irreversibel, als göttlich. Es sollte in der Form von unberührbaren Festungen in die Landschaft gesetzt werden. Nicht nur sollte es keine Alternative geben, jede Hoffnung sollte verbaut werden. Auch falls es uns je gelingen sollte, so etwas wie einen vernünftigen Kommunismus zu installieren, würden wir diese Klötze immer noch bewachen, die Abfälle entsorgen müssen.«
    »War es denn nicht die Angst vor radioaktiver Verseuchung, die die Menschen mobilisierte?«, fragte Jeannine.
    »Ein bisschen«, antwortete ich, »ich war damals in New York, als die radioaktive Wolke aus Harrisburg dorthin treiben sollte. Fast niemand ergriff die Flucht. Keine Spur von Panik. Ich glaube, es war die physikalische Tiefe und die zeitliche Endgültigkeit, die wirklich Angst machten. Ein bisschen ähnlich wie bei der Gentechnologie: Dass Menschen ausgebeutet und umgebracht werden, das geht ja noch, aber dass sie irreversibel umgebaut werden, das ist zu viel. Und es waren ja nicht nur Ängste: Atomkraftwerke sind sündhaft teuer, die Strompreise würden steigen – das sind sie ja. Es ging auch um das Haushaltseinkommen.«
    »Und um die Natur«, meinte Jeannine.
    »Ja, alle Fluchtwege wurden verbaut«, sagte ich, »die Leute bekamen Platzangst.«
    »Aber sie verbauten sich mit ihrer Flucht den Fluchtweg gerade selbst, mit ihren Autos und Häuschen auf dem Land«, wandte Jeannine ein.
    »Wieder ein Dilemma, das Manetti ausführlich beschreibt«, berichtete Nora, »das Rarwerden von Ausweichmöglichkeiten. Die Enge wurde in den achtziger Jahren deutlich spürbar. Die Kompensation der Frustrationen im ständig intensiveren Arbeitsleben wurde immer schwieriger. Eine dieser Kompensationen war die Natur, das Echte, Andere, Elementare. Man braucht gar kein Naturliebhaber zu sein, um das zu verstehen: Die Benutzung von Natur kann auch als ein Faktor der Reproduktionsbedingungen angesehen werden, als ein Lohnbestandteil. Dieser Lohnbestandteil war in Gefahr. Das Wort Waldsterben sagt ja alles. Das erinnert ein bisschen an Marx’ frühen Artikel über das Verbot, im Wald Fallholz zu sammeln. Damals ging es um Brennholz, jetzt um den Wald als Kulisse für Spaziergänge. Doch die Menschen waren in der Falle: Je mehr Natur sie konsumierten, umso weniger blieb davon übrig, umso weiter mussten sie ausweichen, nach Thailand, Kenia, Kuba. Und das musste bezahlt werden – Naturzerstörung hier

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