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P.M. Manetti lesen oder Vom Guten Leben

P.M. Manetti lesen oder Vom Guten Leben

Titel: P.M. Manetti lesen oder Vom Guten Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
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und Tourismus dort gehen Hand in Hand. Logisch wäre es gewesen, einen Baustopp und ein Autoverbot zu erlassen, stattdessen begann man grün zu wählen.«
    »Alles gut und schön«, seufzte Christian, »aber wie hilft uns all das, Rita zu finden?«
    »Wir waren davon ausgegangen, dass wir in den Notizbüchern Anhaltspunkte für das Verschwinden von Lesern finden könnten«, klagte Jeannine, die immer unruhiger geworden war.
    »Haben wir jetzt solche Anhaltspunkte?«, fragte Christian.
    »Nun«, antwortete Nora, »der Grundton in Manettis Notizen ist klar: Dilemma, Falle, Enge, Grunddepression, Ermüdung, Schwerkraft, Zynismus, Frustration, Sorgen, Ärgernisse, Platzangst, verbaute Fluchtwege … Das ist doch alles zum Davonlaufen. Es ruft nach einem Ausbruch.«
    »Doch wohin?«, fragte Christian.
    »Was Manetti da beschrieben hat, ist doch vielen von uns klar«, erklärte ich, »viele haben versucht davonzulaufen – aufs Land, in imaginäre Welten, nach Spanien, Indien – aber sie wurden eingeholt. Am Schluss kamen sie alle zurück. Alles ist zum Davonlaufen, aber wir sind fast alle noch da – außer denjenigen, die sich umgebracht haben. Ich glaube nicht, dass Rita davongelaufen ist. Das hätte sie schon vor dreißig Jahren tun können. Nein, sie ist irgendwohin
gegangen

    »Vielleicht macht es ihr einfach nur Spaß, uns auf Trab zu bringen«, schlug Jeannine lächelnd vor.
    »Das wäre ein schlechter Streich«, wandte Christian ein, »gar nicht ihre Art. Ich glaube eher an eine Entführung, oder eine Erpressung. Sie musste irgendwohin, weil sonst etwas Schlimmes geschehen würde.«
    Jeannine blätterte verbissen in den Notizbüchern. »All das klingt interessant. Wenn man sich vergegenwärtigt, was in den siebziger Jahren ablief, dann schaut man in einen Abgrund. Ein gewisser Horror beschleicht einen. Das war ja eine Phase gigantischer Selbstbehinderung, die dann zur Selbstverstümmelung geführt hat. Aber warum sollte das Rita
jetzt
dazu bringen zu verschwinden? Jetzt sind all diese Themen doch abgewickelt. Wer jetzt noch da ist von eurer Generation, der hat sich arrangiert.«
    »Ganz besonders Rita«, meinte Nora, »sie wirkte schon ziemlich abgeklärt. Fast schon altersradikal.«
    »Altersradikal?«, rief Christian aus, »was soll das nun wieder? Woran soll man Radikalität bitte messen? Gibt es ein Punktsystem?«
    »Nun reg dich nicht so auf, Papa. Nora will nur sagen, dass da drin kaum etwas steht, das einen dazu bringt zu verschwinden. Fast scheint es wie ein
acte gratuit
. Die Leute verschwinden, um uns zu ärgern, um uns zurückzulassen. Vielleicht wollen sie nur gesucht werden.«
    Immerhin bewegten wir uns schon kreuz und quer durch Europa, um sie zu finden. Was die Frage nicht beantwortete,wer diese Fluchten auslöste, wohin man floh, und was einen dort erwartete.
    »Das erinnert mich an diese Geschichten von Entführungen durch Außerirdische«, sagte Nora, »oder an den Glauben der amerikanischen Fundamentalisten an eine bevorstehende Entrückung der wahren Gläubigen:
the rapture
. Das Nahen der Apokalypse wird angezeigt durch das Verschwinden der Gerechten.«
    »Auf einen solchen Humbug weist nichts in diesen Texten hin«, brummte Christian.
    »Vielleicht steht das im verlorenen 11. Band«, meinte Jeannine.
    »Er muss die Jahre 1996 und 1997 umfassen«, stellte Nora fest, »wir könnten ja überhaupt einmal alle Bände durchgehen und versuchen, ihnen Jahre und Ereignisse zuzuordnen.«
    Und so gingen wir Band für Band durch: 1975 begann mit einem Dur- und einem Mollton. Der Vietnamkrieg wurde vom Vietcong gewonnen, die griechische Militärdiktatur endete, Franco starb, dafür war in Chile immer noch Pinochet an der Macht. Nixon wurde verjagt, es fingen bald die Carter-Jahre an, die Anti-AKW-Bewegung, die bleiernen Jahre. Die Löhne folgten ab 1975 nicht mehr der Steigerung der Produktivität: Der keynesianische Deal war gekündigt worden. Irgendwo in Band 2 war die englische Misere im Gang, Harrisburg, Iran, die Geiselkrise im Iran, Carters Kollaps beim Joggen. In Zürich gab es die
Bewegig
(wohin?) und ein Kulturzentrum in der Roten Fabrik, einige Hausbesetzungen.
Mars
von Fritz Zorn erschien. Dann, in Band 3, gewannen Thatcher und Reagan die Wahlen, wurden Betriebe »down-sized«, gab es Massenentlassungen und versank die Wirtschaft im Morast. In Band 4 oder 5 kam der große Ausverkauf: Erdöl wurde verbilligt, es ging wieder vorwärts, Japan blühte auf, zugleich kam Gorbatschow mit Glasnost

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