P.M. Manetti lesen oder Vom Guten Leben
und Perestroika, der Anfang vom Ende der Sowjetunion. In Frankreich gewann Mitterrand die Präsidentschaft und setzte damit einen kleinen Kontrapunkt zur allgemeinen neoliberal/konservativen Wende. Was geschah nochin den achtziger Jahren? Betriebsschließungen, die kleinen Drachen und Tiger im fernen Osten, der Afghanistankrieg der Russen und die Aufrüstung der Taliban durch die Amerikaner, Sloterdijk, Baudrillard, Virilio. Postmodern, politisch korrekt. Die hirnrissige Laffer-Kurve, die beweisen sollte, dass niedrigere Steuersätze zu höheren Staatseinnahmen führen. Die Bände 5, 6, 7 führten in die späteren achtziger und frühen neunziger Jahre. Wieder Krise, Börsencrash 1987, zum ersten Mal richtige Arbeitslosigkeit in der Schweiz, Industriebrachen, Tschernobyl, Waldsterben, Aufräumen in der Hausbesetzerszene, Zusammenbruch des »real existierenden Sozialismus«, erster Irakkrieg. Die Bände 8 bis 9 fielen in die frühen neunziger Jahre: Clinton und seine Ränkespiele, hartnäckige Krise, Aufstieg des Computers und des Internets, Globalisierung, Krieg in Jugoslawien, Parteibürokraten werden zu neuen Oligarchen, Verbreitung des Mobilfons, Japan schlafft ab. Die Bände 10 und 11 schildern die Mitte der neunziger Jahre. Belgrad wird bombardiert. Boom in den USA. Jelzin an der Macht, Krieg in Tschetschenien. Band 11: um 1996. Jetzt machte sich Christian, der immer finsterer geworden war, bemerkbar: »Erschien da nicht diese Forrester?«
»Ich hol sie mal«, sagte Jeannine und begab sich zur Non-Fiction-Bücherwand im Wohnraum.
Sie kam mit einem fingerdicken weißen Buch zurück: Viviane Forrester,
L’horreur économique
. Da der Schuber noch auf dem Tisch stand, probierte Jeannine das Buch einzufügen. Es passte genau, in Größe und Dicke, nur nicht in der Farbe.
»Das ist nun aber komisch!«, rief Christian aus.
Er nahm das Buch wieder heraus und blätterte darin. Dann las er Passagen vor:
»Die allgemeine Gleichgültigkeit zu erhalten, stellt für sein System einen größeren Sieg dar, als jegliche teilweise Unterstützung, auch wenn sie beträchtlich ist.«
Oder:
»Die Regierung ist nicht die Macht. Denn die Macht (die sich nicht um Regierungen schert, weil sie diese nur allzuoft selbst eingesetzt und beauftragt hat, um sie besser im Griff zu haben) hat noch nie das Lager gewechselt. Die herrschenden Klassen der Privatwirtschaft haben manchmal die Regierungsgewalt verloren, nie aber die Macht.«
Er las noch einige Sätze vor, die aber keinen großen Eindruck machten.
»Das alles ist völlig banal. Ein Schwall von Platitüden«, sagte er, »wenn Manetti das gut fand, dann kann man ihn weglegen.«
»Wir wissen nicht, ob Manetti Forrester überhaupt erwähnt«, erwiderte Nora, »ich glaube eher nicht. Grondin hat sie erwähnt. Und den kommenden Aufstand. Manetti stellt nur selten Bezüge zu einzelnen Büchern her. Natürlich schlägt sich die Globalisierung und die Malaise, die sie auslöst, bei ihm nieder. Manetti führt keine Debatten weiter. Er versucht herauszufinden, warum debattiert wurde und was die großen Debatten mit unseren kleinen Leben zu tun haben. Forrester ist definitiv nicht Band 11. Das passende Format ist ein Zufall. Es gibt viele Bücher mit ähnlichem Format.«
»Band 12 fällt in die Jahre 1997 bis 1999«, stellte Jeannine fest.
Christian runzelte die Stirn. »Hatten wir da nicht Blair und dann Schröder und Fischer? Und dann gab es noch die Asienkrise. Die Anti-WTO-Demo in Seattle. Sozusagen als Schlusspunkt.«
»An das erinnere ich mich noch gut«, sagte Jeannine.
»Ja, Manetti verabschiedete sich in einem relativ hoffnungsvollen Moment«, meinte Nora, »was nachher kam, war dann weniger lustig, 9/11, Afghanistan, Irakkrieg, Krise, Aufblähen der Finanzblase … und dann ihr Platzen 2008. Und nun Schuldenkrise, überall rechte Regierungen, Sparprogramme …«
»Immerhin noch Obama«, wandte Jeannine ein.
»Aber der wird jetzt gerade demontiert«, versetzte ich.
»Ich weiß nicht, was das alles soll«, seufzte Christian, »wie soll dieser Geschichtsunterricht uns helfen, Rita zu finden?«
»Stimmt«, gab ihm Nora recht, »die Geschichte ist nur die Folie oder die Oberfläche, unter der sich das Wesentliche abspielt. Manettis Notizbücher sind keine Chronik, nicht mal ein Tagebuch. Er versucht immer wieder die Frage zu beantworten: Warum machen wir das überhaupt? Wieso enden alle unsere guten Absichten im Schrecken? Was machen sie mit uns? Wer sind sie? Oder sind wir
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