P.M. Manetti lesen oder Vom Guten Leben
sie? Gibt es eine übergeordnete Logik, die all unser Denken und Handeln überformt? Müssen wir davon ausgehen, dass wir nicht über unser Schicksal bestimmen? Gibt es ein Schicksal? Woher kommt es?«
Während Nora weiterredete, starrte ich auf den inzwischen wieder gefüllten schwarzen Schuber und hatte plötzlich das Gefühl, die darin erlebte Epoche als Ganze zu begreifen, sie sozusagen in den Händen zu halten. Ja, das waren die Jahre, die viele rechte und linke Regierungen, wenige Siege und viele Niederlagen, viele Fortschritte und Rückschläge gesehen hatten. Das war das Paket. Was sollte ich damit machen? Es öffnen und mich darauf einlassen? Oder es am besten gut verschnürt auf den Estrich verbannen? Oder ins Meer werfen? Die Frage war nicht nur, was gesünder war, sondern was richtig war. Kann man einen Teil seiner Geschichte einfach entsorgen? Oder muss man sie »aufarbeiten« – lieber nicht! Ist man gezwungen, die Geschichte zu wiederholen, weil man sie nicht verstehen will? Ist das nicht eine heroische Selbstüberschätzung? Die Geschichte sorgt schon selbst dafür, dass sie sich nicht wiederholt. Natürlich erkennt man gewisse Muster immer wieder: die Angst vor Veränderungen, die perverse Lust, sich mit den Herrschenden, Reichen und Berühmten zu identifizieren und seine eigenen Interessen zu vergessen, der unausrottbare Glaube an Erretter, den Teufelskreis von Provokation und Repression, Tendenz und Gegentendenz, Boom und Bust, die Angst vor dem Glück, das Verliebtsein ins Scheitern, das ewige Ausweichen in Ersatzhandlungen – wie zum Beispiel das Rauchverbot.
»Man muss also doch Manetti lesen«, folgerte Christian schließlich.
»Wahrscheinlich«, gab Nora zurück.
Wir waren wieder in einer Sackgasse gelandet. Jeannine war schon mehr als genervt, Nora ermüdet, Christian deprimiert.
»Vielleicht hat sich Rita nur eine Auszeit genommen«, schlug ich vor, »aus einer momentanen Laune heraus. Du kommst aus einer Kantonsratssitzung und realisierst plötzlich, wie sinnlos, trivial und hoffnungslos deine Bemühungen angesichts einer betonierten rechten Mehrheit sind. Der normale, fröhliche, linke Zynismus bekommt einen Sprung, du rastest aus und fährst statt nach Hause einfach weiter. So wie jener berühmte Ehemann, der nur schnell Zigaretten holen gehen wollte und dann in Hongkong endet.«
»Falsch!«, stoppte mich Nora, »alles war vorbereitet. Sie muss Bargeld auf die Seite geschafft haben.«
»Vielleicht braucht sie gar nicht viel Geld, vielleicht ist sie noch in der Schweiz, bei einer Freundin«, gab Jeannine zu bedenken.
»Wir haben alle Freundinnen kontaktiert«, erwiderte Christian, »und Freundinnen von Freundinnen.«
Wir kamen zu keinem Resultat.
»Wo ist eigentlich unser Verfolger?«, fragte ich Nora.
»Verfolger!« rief Christian aus, »was für ein Verfolger?«
Er fühlte sich wieder hintergangen. Dabei hatte ich den Verfolger nur vergessen.
»Kurz nachdem wir Suvereto verlassen hatten, hat sich jemand nach mir erkundigt«, antwortete Nora, »wir nahmen an, dass jemand uns verfolgte. Aber wir haben niemanden ausmachen können, weder im Zug noch im Bus. Wir haben bloß eine Beschreibung: ein eher kleiner, zierlicher Mann mit dunklem Teint und schwarzen Haaren, eleganter Anzug und Krawatte.«
»Von denen wimmelt’s hier«, meinte Christian.
»Wir sollten uns einmal im Dorf umsehen«, schlug Jeannine vor.
»Es ist dunkel«, warnte ich.
»Wir haben genug Taschenlampen«, parierte Jeannine. Christian verteilte Taschenlampen. Wir teilten uns in zweiZweierteams ein, Christian und ich, Nora und Jeannine. Christian teilte jedem Team vier Gassen zu.
Es gab in Caseneuve zwei Bars, ein Restaurant und drei Bed and Breakfasts. Die Hauptgassen und die drei Plätze waren beleuchtet, die Nebengassen dunkel. Die Luft war lau.
Christian und ich kamen nicht weiter als bis zur ersten Bar, wo wir von der Inhaberin und einigen Bekannten abgefangen und in ein Gespräch verwickelt wurden. Die Erkundigungen von Herrn Grondin, der Klatsch Marlène Morands und anderer Nachbarn hatten dafür gesorgt, dass Ritas Verschwinden das Thema des Tages war. Man drückte Christian die allgemeine Besorgtheit aus und versprach ihm, die Augen offen zu halten. Auf unsere Frage nach einem zierlichen, südländischen Fremden meinte Jean Gomez, ein pensionierter Primarlehrer von extrem gesundem Aussehen:
»Er könnte hier kaum unterkommen. Aline Genets Bed and Breakfast hat nur drei Zimmer, und die sind seit
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