P.M. Manetti lesen oder Vom Guten Leben
gegriffen? Nein, man kann gar nicht zu hoch greifen. Jede Bescheidenheit bedeutet, sich selbst zu belügen. Leute wie Bush oder Berlusconi gehen uns etwas an: Sie sind gar nicht so schlimm, aber unendlich belanglos inZeiten, wo entschiedenes Handeln nötig wäre. Sie verkörpern jene Gleichgültigkeit, die Viviane Forrester beklagt. Sie entlasten uns von jeder Verantwortung. Sie sind das abgrundtiefe Nachlassen, Nebelwolken, Auflösungen. Nicht einmal wirklich böse, sondern nur sträflich langweilig.
»Nun gut«, meinte ich knapp vor Bern, »wir erledigen diese Sache und machen dann einen grandiosen Neuanfang.«
»Das ist die richtige Haltung«, sagte Christian mit einem erschöpften Grinsen. »Man kann nicht einfach verschwinden.«
»Aber eine Auszeit haben wir verdient.«
»Wir haben vieles verdient«, sagte Christian.
Ich war nicht ganz sicher. So viel hatten wir nicht geleistet. Und Leiden zählt ja nicht als Leistung. Dilemmata aushalten und Zynismus pflegen kann man nicht als Verdienst anrechnen. Die Frage war: Wer rechnete da überhaupt? Wo war die Instanz? Sicher kein Politbüro, kein himmlisches Tribunal. Oder gab es das Gewissen einer Generation? Das wäre dann sehr, sehr pervers.
»Manetti wird uns keine Antwort geben«, sagte Christian irgendwo im Mittelland.
»Er wird nicht einmal die richtigen Fragen stellen.«
»Wenn wir die wüssten …«
»Ich werde ihn auf den Kompost werfen. Verbrennen kann man Bücher ja nicht mehr.«
Manetti kompostieren. War das nicht eine moderne, ökologische Form der Lektüre?
Ich fuhr zu Christian nach Hause, denn wir wollten noch mit Jeannine und Nora kommunizieren und die nächsten Schritte besprechen.
Es war Samstagabend in Zürich. Der Vergnügungstourismus hatte begonnen, doch in Christians Quartier war es sehr ruhig. Nur eine Grillparty war im Gang. Mehr als etwas Gemurmel und Rauch generierte sie nicht.
Seine großzügige, aber gemütliche und unprätentiöse Wohnung war leer. Etwas Aufräumen und Putzen hätte ihr gut getan. Christian legte einen Stapel
Tages-Anzeiger
und
NZZ
auf den Tisch und wandte sich dann dem blinkenden Anrufbeantworter im Salon zu.
Ich betrachtete die glitzernden Staubpartikel in den Strahlen der Abendsonne, während er eifrig versicherte, beruhigte, zur Kenntnis nahm und Notizen machte.
»Ich komme gleich, nimm dir ein Bier«, sagte er und hastete ins Arbeitszimmer zu seinem Computer.
Ich bummelte in die Küche, die auch nicht sehr gepflegt aussah – offensichtlich hatten während der vergangenen Tage andere Prioritäten geherrscht. Ich fand im Kühlschrank zwischen unübersichtlichen Speiseresten ein Sprint-Bier, entdeckte einen Flaschenöffner und setzte mich in den Salon. Auf dem Tisch die Zeitungen und ausgedruckte E-Mails. Es gab sogar einen halbvollen Aschenbecher, ein seltenes Objekt, das ich mit Ehrfurcht betrachtete.
Ich nahm das neue
TA-Magazin
zur Hand und las einen Artikel über den Werdegang von Max Frisch: erschreckend, dieser Mangel an Zynismus!
Endlich setzte sich Christian mit einem erleichterten Seufzer zu mir. »Rita lebt, sie wurde in Berlin gesehen.«
»Wunderbar.«
Er zündete sich eine Gauloise an. Dann berichtete er. Jeannine und Nora hatten sich bei der vom Verlag angegebenen Adresse nach Thomas Schneider erkundigt. Der war gerade nicht da, aber noch am Donnerstag mit einer Frau namens Rita gesehen worden. Die Beschreibung passte ebenfalls auf sie. Sie waren dann zusammen weggegangen. Wohin, wusste die Wohnungsmieterin nicht. Auf Thomas Schneiders Pult fanden sie Elsas Adresse. Da fuhren sie hin – sie war natürlich auch nicht da. Aber eine Freundin namens Cora, die auch dort wohnte, berichtete, dass Thomas und Rita am Donnerstag vorbeigekommen waren. Sie waren dann zusammen mit Elsa für einige Tage verreist.
Christian hatte mehrere tiefe Züge genommen und uns in eine wohlige Rauchwolke gehüllt.
»Jetzt sind sie in Elsas Wohnung, wo sie vorerst bleiben dürfen. Sie versuchen herauszufinden, wohin die drei verreist sind. Was sie aber schon erfahren haben, ist, dass Thomasöfters mit Leuten zu Elsa kommt und dann anschließend verreist.«
»Die Verschwundenen werden weitergereicht«, schloss ich, »wie Flüchtlinge zur Nazi-Zeit.«
»Klingt genau so. Sie essen nun mit Cora bei einem Griechen um die Ecke und halten uns auf dem Laufenden.«
»Morgen besuche ich Marcel Lüthi in Kilchberg. Dann fahre ich mit Band 11 nach Berlin. Ich lasse mich einfach auch weiterreichen.«
»Jeannine kommt
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