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P.M. Manetti lesen oder Vom Guten Leben

P.M. Manetti lesen oder Vom Guten Leben

Titel: P.M. Manetti lesen oder Vom Guten Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
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zur Volkskrankheit Nummer eins.
    Die Linke wirkt ausgelaugt, die Rechte hat freie Bahn.
    Aber eigentlich herrscht Leere in der Mitte der neunziger Jahre. Windstille.
    In Urnäsch sieht er einen Alpabzug. Alle Tiere waren gut dran, außer einem zerzausten jungen Stier, der geiferte und sich elend dahinschleppte.
    Auf jeden Fall ist das Ganze völlig irr.
    Es wird dunkler.
    Maximaler Zynismus kombiniert sich mit maximalem Durchblick. Nur Idioten überleben.
    Manetti isst viel Pasta. Gut gegen Depressionen. Vor allem Spaghetti all’arrabbiata.
    Dann wieder sein Mobilfon. Er ist global vernetzt.
    Da begriff ich, worum es ging.
    Nicht um ein Datum. Um eine Nummer.

13.
    Die psychiatrische Klinik in Kilchberg machte auf mich einen netten, gepflegten Eindruck. Nach einigem Insistieren bewilligte Dr. Kallberger einen Besuch. Sie stammte aus Frankfurt. Sie war vielleicht um die 45 Jahre alt, wirkte müde und lustlos. Sie hatte welliges dunkelblondes Haar, ein schmales Gesicht, verwaschene blaue Augen, einen fleckigen Teint. Sie trug Jeans und eine dicke blaue Wolljacke. Sie war etwas größer als ich, sportlich.
    »Das ist ein ganz ungewöhnlicher Fall. Das Arztgeheimnis verbietet mir, Ihnen zu sagen, was für eine Diagnose ich gestellt habe. Ich kann Ihnen aber sagen, dass ich ziemlich ratlos bin. Ich hoffe nur, Ihr Besuch verwirrt Herrn Lüthi nicht noch zusätzlich.«
    »Hat er Manettis Bücher hierher mitgenommen?«
    »Ja, aber wir haben sie ihm wegnehmen müssen. Je weniger er darüber nachdenkt, umso besser.«
    »Ich werde vor allem zuhören. Sie können natürlich dabei sein.«
    »Ich werde draußen warten. Falls sie mich brauchen, können sie mich sofort herbeirufen. Lassen Sie die Tür einen Spalt offen. Herr Lüthi steht unter starker Medikation. Er will dauernd ausreißen. Das dürfen wir nicht zulassen.«
    »Ich werde nur mit ihm reden.«
    Sie nickte und wirkte verunsichert. Zugleich war sie sehr neugierig auf die weitere Entwicklung des Falls. Vielleicht hoffte sie auf wissenschaftlichen Ruhm, wenn sie ihn alserste beschrieb. Logomanie? Das Manetti-Syndrom? Die Kallberger-Psychose?
    »Ich nehme ein Risiko auf mich. Bei der geringsten auffälligen Reaktion müssen Sie sofort gehen.«
    »Ich verstehe.«
    Sie begleitete mich zu seinem Zimmer. Die Gänge waren in freundlichen Farben gehalten, überall standen tropische Zimmerpflanzen. Patienten in bequemer Kleidung und dicken, bunten (selbstgestrickten?) Pullovern grüßten uns. Ich war zuversichtlich, dass Marcel Lüthi geheilt sein würde, wenn ich die Klinik verließ.
    Er lag angezogen auf einem Bett. Sein Gesicht war aufgedunsen, er blickte zur Decke.
    Ich setzte mich auf einen Stuhl neben sein Bett. Er hatte mich bemerkt, reagierte aber nicht.
    So ging das etwa fünf Minuten.
    Dann sagte ich: »Herr Lüthi, erkennen Sie mich?«
    »Wir sind doch per Du.«
    »Entschuldigung, Marcel.«
    »1996 kaufte sich Manetti ein Mobilfon. Er stellte sich die Frage der ständigen Erreichbarkeit und was das bedeutete. Die zunehmende Verfügbarkeit für die Arbeitgeber, kombiniert mit E-Mails, beschleunigte das Leben, führte zu Hektik, Nervosität und dann zum Zusammenbruch. Eine Optimierung der Arbeitseinsätze wurde möglich, eine Verdichtung. Eine virtuelle Omnipräsenz wurde hergestellt. Unter den Bedingungen einer nichtkapitalistischen Gesellschaftsordnung wäre das ein wahrer Segen. Synergien könnten schnell hergestellt werden, die Trennung zwischen Konsumenten und Produzenten könnte überwunden werden. Zusammenarbeit würde leicht herstellbar. Robert Walser ist von Zürich nach Genf gelaufen, praktisch gejoggt.
    Der Mond blickt zu uns hinein,
    er sieht mich als armen Kommis
    schmachten unter dem strengen Blick
    meines Prinzipals.
    Ich kratze verlegen am Hals,
    dauernden Lebenssonnenschein
    kannte ich noch nie.
    Mangel ist mein Geschick;
    kratzen zu müssen am Hals
    unter dem Blick des Prinzipals.
    Der Mond ist die Wunde der Nacht,
    Blutstropfen sind alle Sterne.
    Ob ich dem blühenden Glück auch ferne,
    ich bin dafür bescheiden gemacht.
    Der Mond ist die Wunde der Nacht.«
    Marcel verstummte. Ich wusste nicht, wie ich reagieren sollte.
    »Wie geht es dir?«, fragte ich.
    »Stell keine Fragen«, versetzte er heftig.
    »Berichte weiter.«
    »Die schwarzen Löcher sind das große Thema. Verschlucken sie alles oder kommt Information aus ihnen heraus? Hawking verlor seine Wette. Der Ereignishorizont …«
    Er verstummte wieder. Ich fragte mich, ob ich mit meiner

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