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P.M. Manetti lesen oder Vom Guten Leben

P.M. Manetti lesen oder Vom Guten Leben

Titel: P.M. Manetti lesen oder Vom Guten Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
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Information herausrücken sollte. Es schien mir, dass er ziemlich hinüber war. Ich konnte damit alles Mögliche auslösen.
    »Es ist eine Nummer, kein Datum«, sagte ich schließlich.
    Er schien die Information zu verarbeiten.
    »Aha.«
    »Dann kann ich ja gehen.«
    »Danke.«
    Ich stand auf und verließ das Zimmer.
    Draußen empfing mich Dr. Kallberger. Sie war ganz rot im Gesicht. Sicher hatte sie gehorcht.
    »Wie ist es gegangen?«, fragte sie in drängendem Tonfall.
    »Ganz gut. Ich glaube, Sie können Herrn Lüthi jetzt entlassen.«
    »Kaum. Er steht noch unter dem Einfluss von Medikamenten.«
    »Setzen Sie sie ab.«
    »Er phantasiert, hört Stimmen, verfällt in katatonische Zustände.«
    »Nicht mehr.«
    »Haben Sie gehört, wie er vom Mond als Wunde sprach?«
    »Ein Gedicht von Robert Walser.«
    »Ausgerechnet Robert Walser!«
    »Aber er wird nicht enden wie Robert Walser.«
    Sie seufzte etwas irritiert. »Was haben Sie ihm denn gesagt?«
    »Das blühende Glück ist nahe.«
    Sie starrte mich zuerst ungläubig, dann empört an. »Er hat Sie offensichtlich in seine Phantasiewelt eingewickelt. Wahrscheinlich haben Sie alles nur noch verschlimmert.«
    »Herr Lüthi ist geheilt. Reden Sie mit ihm. Ich muss jetzt gehen.«
    »Dann gehen Sie halt.«
    Sie ließ mich stehen und betrat Marcels Zimmer.
    Ich hoffte, dass ich alles richtig gemacht hatte. Ich befürchtete, dass es für Marcel Lüthi zu spät war. Ich befürchtete, dass es auch für mich zu spät war.
    Im Bus zum Bellevue ging mir Dr. Kallbergers Bemerkung »Ausgerechnet Robert Walser« nicht aus dem Kopf. Robert Walser war nicht der Roberto Manetti einer früheren Epoche gewesen. Aber merkwürdigerweise bleibt er hartnäckig aktuell. Das hing wahrscheinlich damit zusammen, dass er ironisch und freundlich am Rande von Abgründen entlangspazierte. Was waren diese Abgründe? Der Tod? Kaum – zu abstrakt, zu bekannt, lediglich Endpunkt, banales biologisches Verfallsdatum. Eher machen die zunehmenden Unannehmlichkeiten Angst – so wie Philip Roth sie beschreibt. Das Alter als Massaker. Der Wahnsinn? Nun, der hat auch etwas Kreatives, Verspieltes. Wenn er ein dumpfes Dahindämmern wird, wenn die Erinnerungen nicht mehr zugänglich sind – dann wird er zum Schrecken, gemildert allerdings durch die zunehmende Dumpfheit. Nein, den absoluten Abgrund gibt es nicht. Er entsteht höchstens aus dem Bedürfnis, dem Alltag Tiefe zu geben, Tiefe um jeden Preis. Er ist als dunkle Anspielung nötig, um der Flachheit zu entgehen. Er ist eine Form der Eitelkeit, eine bloße Koketterie. Robert Walser fällt in ein Loch – aber da ist nichts, nur weicher Schnee. Das Leben bleibt unwiderruflich oberflächlich. Es gibt keine Tiefe, schon gar keinen »tieferenSinn«. Wir sind einer platten Gesellschaftskomödie ausgeliefert. Es ist manchmal wichtig, ernst zu sein. Also sind wir halt mal ernst.

14.
    Wie abgemacht fuhr ich direkt zu Christian nach Hause, um mich und ihn über den Stand der Ermittlungen ins Bild zu setzen. Die Wohnung war aufgeräumt worden.
    Christian war guten Mutes. Jeannine würde am Abend den Zug nach Zürich besteigen. Nora hatte gemailt, dass sie mit Cora zu Elsas Landsitz aufbrechen und inzwischen das Mobilfon abstellen würde. Ich würde den Kontakt aufnehmen, wenn ich in Berlin war. Soweit war alles klar.
    »Ich habe ein bisschen in diesem Machwerk gelesen«, sagte Christian, als wir uns mit einem Bier auf die Sofas setzten. Der schwarze Schuber stand auf dem Salontischchen.
    »Eigentlich ist es der innere Monolog einer Generation«, fuhr er fort, »der Ton ist zwar leicht und ironisch, aber irgendwo lauert da ein Abgrund.«
    »Ein Abgrund? Was für ein Abgrund?«
    »Verlust, Trauer, Vergeblichkeit, Lebensmüdigkeit.«
    »Das sind doch keine Abgründe. Das ist normal.«
    Christian seufzte. »Du bist schon darüber hinweg. Andere kämpfen noch. Im Ernst: Manetti liest sich sehr gut. Seine Palette ist sehr breit: von geistreichen Aperçus bis zu eigentlichen Essays. Er ist hochgradig zitierbar. Aber etwas ist mir aufgefallen: Er muss immer nachts geschrieben haben. Oft kommt er von einer Vernissage, einer Podiumsdiskussion, einer nächtlichen Demo, einer Vollversammlung nach Hause und reflektiert das Geschehene. Er hat von zwei Uhr nachts bis morgens um fünf geschrieben.«
    »Also zu der Zeit, als Robert Walser seine Gewaltmärsche unternahm.«
    »Wie kommst du jetzt auf Walser?«
    »Wegen der Abgründe – vielleicht gibt es Parallelen zwischen den

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