P.M. Manetti lesen oder Vom Guten Leben
beiden.«
»Aber Walser ist ein Erzähler!«
»Scheinbar, scheinbar«, sagte ich.
Christian räusperte sich. »Das zweite, was mir aufgefallen ist, sind die zeitlichen Lücken. Zwischen den verschiedenen Eintragungen vergehen manchmal Monate. Das merkt man daran, dass er wichtige Ereignisse in Zürich verpasst hat. Wo war er da?«
»Vielleicht in New York? In Paris? In Rio?«
»Aber darüber schreibt er nichts. Nur indirekt und aus Zürcher Perspektive.«
»Die Texte sind für die Zürcher Szene geschrieben«, antwortete ich, »nicht für ein Weltpublikum. Man verschwindet aus Zürich, nicht aus Paris oder Madrid. Dorthin geht man.«
»In Paris ist auch nichts«, wandte ich ein.
»Hast du den Band 11 mitgebracht?«
Ich packte ihn aus und gab ihn ihm. Er blätterte eine Weile darin.
»Da ist eigentlich nichts Besonderes drin«, sagte er.
»Wenn du jemanden nach dem Jahr 1996 fragst, fällt ihm in der Regel nichts ein«, erklärte ich.
»1989 fällt die Mauer, 2001 endet der Dotcom-Boom. Dazwischen mittelmäßiges Wirtschaftswachstum.«
»Es war die Jugend deiner Kinder.«
Christian nickte bedächtig. »Eine schwierige Zeit für Jeannine, weniger schwierig für Bernard. Jeannine wollte nicht mehr essen, verweigerte die Normalität, ohne besonderen Grund. Es war ja alles geregelt. Ich hatte meinen Job, Rita machte Politik. Es kamen die Einwanderer aus dem Balkan. Der Computer wurde wichtiger.«
All das führte natürlich zu nichts, sollte es auch nicht. Es ging nicht um das Jahr 1996, nicht um den Inhalt, nicht um Manettis Reflexionen.
Dann wollte er wissen, was mein Besuch bei Marcel Lüthi gebracht hatte. Für mich ging es darum, Christian vor der Wahrheit zu schützen.
»Er ist in einem katatonischen Zustand. Irgendetwas scheint ihn in eine Blockade getrieben zu haben. Er nimmt alles vielzu ernst. Vielleicht sucht er in Manetti eine Art von Rettung.«
»Rettung suchen wir doch alle«, brummte Christian.
»Aber da ist natürlich kein Retter. Marcel dachte zu viel, nun ist er in einer endlosen verdrehten Schleife gefangen, in einem Möbiusband. Vielleicht sind unsere Verschwundenen nur Flüchtlinge aus dieser drohenden Verstrickung. Aber in seinem Zustand kann man ihn nirgendwohin schicken. Er hat den Absprungmoment verpasst. Jemand müsste ihn mitnehmen – aber dazu habe ich keine Lust.«
»Hat er keine Freunde oder Freundinnen?«
»Ich habe ihn nicht gefragt. Er zitierte ein schauriges Walser-Gedicht.«
»Ausgerechnet Walser!«
»Ja, das klang nicht gut.«
»Und was machen wir jetzt?«
»Wir?
Ich
fahre nach Berlin –
du
verabschiedest deine Maturanden. Ich hoffe, dass ich in Berlin einen Anknüpfungspunkt finde.«
»Mir ist nicht wohl bei der Sache. Warum schalten wir nicht die Polizei ein? Sie hat viel bessere Möglichkeiten, Personen aufzuspüren.«
»Das könnte heikel werden. Die ganze Angelegenheit könnte kriminalisiert werden, bevor wir wissen, um was es überhaupt geht. Ich bin dafür, die Polizei nicht einzubeziehen. Es kann aber sein, dass die durchaus schon auf unserer Spur sind.«
»Aber das ist nur eine etwas kühne Vermutung. Wohin verschwinden diese Leser? Es müssen inzwischen Hunderte sein – das müsste doch irgendwie auffallen.«
»Ich weiß es nicht. Es könnte sein, dass das Verschwinden inzwischen aufgehört hat.«
»Du meinst, es gab nur
einen
Schub?«
»Ja, weil eine solche Bewegung eben auf Dauer den Behörden auffallen muss. Es ist jetzt schon zu viel Polizei im Spiel, hier, in Frankreich, in Italien … Freunde und Verwandte beginnen sich zu erkundigen. Wir sind das beste Beispiel.«
»Die ganze Sache muss professionell organisiert worden sein.«
Christian holte ein zweites Bier, und wir traten auf den Balkon. Das Wetter war immer noch schön und warm.
»Es läuft doch auf folgende Annahme hinaus«, begann Christian, »wenn wir verstehen, was mit uns geschehen ist, dann werden wir uns selbst verstehen, und dann werden wir aus der Sackgasse herauskommen. Lernen aus der Geschichte. Ein großer Mythos, vor allem darum, weil die Geschichte nie die Geschichte ist, wie sie war, sondern immer schon unsere eigene Fabrikation. Sogar die Originaldokumente nützen uns nichts, sie waren nie gegenwartsrelevant, sondern werden immer im Nachhinein hergestellt. Und sie sind lückenhaft, redigierte Impressionen. Wie gut dokumentiert ist zum Beispiel dieser Moment hier, unser Gespräch auf meinem Balkon?«
»Wir haben nur die Vergangenheit, wir versuchen möglichst viel
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