P.M. Manetti lesen oder Vom Guten Leben
aus ihr zu machen.«
»Aber sie kann uns verschlingen, genauso wie die Gegenwart, und erst recht die Zukunft.«
»Ein paar Erfahrungen sind doch nützlich«, wandte ich nach einem Schluck Bier ein.
»Wir wussten doch damals alles. Wir wussten, dass es kein endloses Wachstum auf einem endlichen Planeten gibt.
Die Grenzen des Wachstums
wurde schon 1972 veröffentlicht. Wir kannten das Gesetz des tendenziellen Falls der Profitrate. Wir wussten, dass Reagan und Thatcher nur eine Blase aufpumpten. Wir lachten über die Laffer-Kurve. Wir konnten bei Robert Kurz schon 2003 nachlesen, dass die Finanzblase platzen würde, nicht weil irgendwelche Spekulanten Börsenroulette spielten, sondern weil die Logik des Kapitals keinen andern Ausweg mehr zuließ. Die Realwirtschaft ist genauso unhaltbar wie ihre virtuellen oder immateriellen Töchter. Das reale Wachstum konnte nur mit einer Finanzblase aufrechterhalten werden. All das war seit Jahrzehnten bekannt. Und heute reden sogar normale Ökonomen von einer Postwachstumsgesellschaft, aber ihre intelligenten Ratschläge prallen einfach an der Realität ab. DasEnde des Wachstums ist nicht eine gemütliche Schrumpfung, es ist ein schwarzes Loch. Es gibt eine Geschichte, aber sie gehört uns nicht, sie gehört den andern. Sie machen sie, sie ignorieren sie. Sie verzinsen ihr Kapital, oder sie verschwinden. Tun sie aber nicht. Der Tod des Rentiers! Dass ich nicht lache. Schon Keynes hat ihn in den dreißiger Jahren angekündigt. Nicht nur sind sie nicht tot, sie würden uns noch als Leichen beherrschen.«
»Das weiß ich alles. Aber wir leben immerhin noch.«
Christian lachte bitter auf. »Knapp. Quasi auf der Intensivstation.«
»Ich sage jetzt nicht, dass alles gut wird. Ich meine nur, dass wir uns da durchwursteln werden.«
»Egal wie ich es drehe und wende: Die Tatsache bleibt, dass meine Frau mich verlassen hat.«
»Das glaube ich nicht, dann hätte sie gesagt: Ich verlasse dich. Das sagen Frauen. Sie gehen nicht einfach wortlos. Sie hat dich nicht verlassen, sie muss etwas tun, und sie kann es niemandem sagen. Um sich und uns nicht zu gefährden.« »Und was könnte das sein?«
»Vielleicht ist sie einem politischen Skandal auf der Spur. Oder es handelt sich um ein internationales Geheimtreffen. Oder sie will die anderen Verschwundenen retten.«
»So wie ich sie kenne, ist es am ehesten das Letztere. Sie wollte immer Leute retten: Sans-Papiers, Ausschaffungshäftlinge, Entlassene, Nichtangestellte, Ausländer, Insassen …«
»Du wirst sehen: Am Ende ist das Ganze ganz harmlos. Wie ein überraschender Lotteriegewinn.«
Der arme Christian tat mir leid. Er musste beruhigt werden. Er musste seinen Verpflichtungen nachkommen, denn so wie er da auf dem Balkon stand, sah ich einen seriösen, ja beeindruckenden Mann im besten Alter mit Schnauz, randloser Brille und teurem Polohemd vor mir, eine edle Erscheinung. Er machte einen guten Job. Er war kein Arschloch. Er verdiente Unterstützung.
»Du meinst: Sie hat etwas gewonnen?«
»Warum sollte man sonst auf und davon gehen? Ohne Rücksicht auf Verluste?«
»Entführt wurde sie nicht. Sie wurde gesehen.«
»Eben. Ich kann nichts versprechen, aber ich gehe jetzt nach Berlin, um einmal nachzuschauen. Ich habe gerade Zeit, ich schaue mich um. Mein Zug fährt in zwei Stunden, ich sollte noch nach Hause und eine Zahnbürste einpacken.«
Wir gingen in den Salon zurück. Ritas Manetti stand da, mein Band 11 lag auf dem Tisch.
»Kannst du mir den Band 11 dalassen?«, fragte er.
»Dagegen spricht nichts.«
Er gab mir unnatürlich zeremoniell die Hand und wünschte mir viel Erfolg. Ich kam mir vor wie ein Arzt vor einer Therapie mit unsicherem Ausgang.
15.
Ich packte meine Reisetasche, vergaß den Rest-Manetti nicht und fuhr zum Hauptbahnhof.
Im Nachtzug nach Berlin las ich endlich Grondins Lieblingsbuch:
Der kommende Aufstand
. Es war schon 2007 veröffentlicht worden, also jetzt veraltet. Es wurde mir sofort klar, warum der Text zur Pflichtlektüre von französischen Polizisten gehörte. Es wurde darin die neuste Sprachregelung verkündet. Wollte man gemein sein, so hatte der Text die Funktion, den polizeilichen Zugriff auf das radikalste gängige Vokabular zu sichern. Aber vielleicht war das zugleich der Gipfel der Diversion: Denn der Text war völlig harmlos, nur ein Kracher, keine Bombe. Die Energie war da, aber der Behälter fehlte. Von der Polizei geht längst schon keine Gefahr mehr aus. (Nur für die Paranoiker des
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