Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
P.M. Manetti lesen oder Vom Guten Leben

P.M. Manetti lesen oder Vom Guten Leben

Titel: P.M. Manetti lesen oder Vom Guten Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren:
Vom Netzwerk:
meine Reisetasche. »Warum soll ich hier überhaupt übernachten?«, fragte ich ihn.
    »Wegen der Polizei. Hier gibt es keine Meldepflicht. Du verschwindest vom Radar. Und morgen kommt Frau Kallberger – du wolltest das ja.«
    »Und du?«
    »Ich habe im Verlag zu tun. Aufräumen, wir machen zu.«
    »Der Verlag wird aufgegeben?«
    »Ja, Ammann hat genug. Manetti war sein letzter Streich. Manetti ist übrigens praktisch vergriffen. Es gibt keinen Nachdruck.«
    »Und Egon Ammann ist verschwunden – richtig?«
    »Richtig.«
    Wir hatten eines der zwei Dutzend Zimmer erreicht, über die das Anwesen verfügte. Es war nicht allzu groß, edel eingerichtet, mit Ausblick auf den Garten und den See.
    »Und wie geht es nun weiter?«, fragte ich Thomas.
    »Gar nicht. Du kannst hier gerne ein paar Tage Urlaub machen. Vielleicht kannst du mit Frau Kallberger etwas wandern in der Umgebung.«
    »Und wohin sind Rita und Nora gegangen?«
    »Das kann ich dir eben nicht sagen. Nora schlief übrigens eine Nacht in diesem Zimmer, Rita drei Nächte nebenan.«
    »Alle Verschwundenen kamen hier durch?«
    Er schüttelte den Kopf. Sein Teint war blass, er wirkte ermattet. »Nicht nur.«
    »Und wie finde ich nun heraus, was mit ihnen geschehen ist?«
    »Du findest es nicht heraus. Lass es bleiben. Diese Sache geht dich nichts an.«
    »Immerhin habe ich die Nummer in Band 11 erkannt.«
    »Diese Nummer ist nun stillgelegt. Leider bist du zu spät gekommen. Du hättest die Lektüre nicht so lange aufschieben sollen.«
    »Wer zu spät liest, den bestraft Manetti.«
    Thomas fand das nicht lustig. Er war bekümmert, fahrig.
    »Ich lass dich hier allein. Ruh dich aus, um acht Uhr ist Apéro, dann Abendessen.«
    Hastig verließ er das Zimmer. Ich blieb einen Moment lang ratlos stehen. Was hätte ich ihn noch fragen sollen?
    Marcel Lüthi. Was würde aus ihm werden? Sicher würde er versuchen, auf die Spur seiner Therapeutin zu kommen. Und sie? Hatte sie ihm den Manetti-Schuber unter einem psychiatrischen Vorwand weggenommen und ihn dann selbst gelesen? Wie war sie so schnell zur Nummer gekommen? (Im 11. Band findet man sie dort, wo Manetti sein erstes Handy kauft: »Heute, am 16.5.1996, habe ich mein Mobiltelefon gekauft, Nokia 431, schwer wie ein Faustkeil liegt es in meiner Hand.« Es waren die einzigen Zahlen im ganzen Band. Man musste nur noch 004179 davorsetzen und hatte die Nummer. Ein Kinderspiel für den aufmerksamen Leser.)
    Es war etwas stickig im Zimmer, und so öffnete ich das Fenster. Im Westen hatten sich inzwischen dicke schwarze Gewitterwolken zusammengeballt. Man hatte den Tisch im Garten weggeräumt, Wind kam auf. Nervöse Insekten schwirrten herum. Eine Wespe flog ins Zimmer.
    Ich stützte mich auf das breite Fenstersims und betrachtete die Gegend. Der schmale See war von Büschen und Bäumen gesäumt, die gegen Osten ein Wäldchen bildeten. Ein Segelschiff strebte mit geblähten Segeln einer Anlegestelle zu. Geri und Claire steckten immer noch im Bootshaus. Was trieben sie dort?
    Erste dicke Tropfen fielen, Böen strichen über die Gegend. Dann entdeckte ich einen orangen Fleck, der sich schnell vom Wäldchen im Osten heranbewegte.
    Er kam näher: ein Fuchs. Und dann noch einer. Gerade auf der Wiese vor dem Herrenhof rannten die Tiere nun im Kreis herum, hintereinander her. Sie waren aufgeregt, spielten miteinander, kehrten die Richtung um, rannten in einer großen Acht herum.
    Die Tropfen wurden schwerer, aus der Ferne hörte ich dumpfes Donnergrollen.
    Ich war müde, aber zugleich innerlich gespannt. Wie sollte es weitergehen? Ich hatte keine Spur mehr. In meiner Tasche befand sich mein Manetti (ohne Band 11). Sollte ich ihn noch lesen, oder war es wirklich zu spät? Plötzlich kam mir ein Einfall: Vielleicht musste ich nicht lesen, was Manetti geschrieben hatte, sondern was er nicht geschrieben hatte. Vielleicht waren die Lücken der Schlüssel …
    Der Regen prasselte nun heftig herunter, die Füchse verschwanden, ein Blitz schlug in der Nähe ein.
    Eine angenehme Kühle verbreitete sich.
    Ich schaute dem Regen zu, hielt eine Hand hinaus und ließ die Tropfen darauffallen. Als sie nass war, zog ich sie zurück. Es war nun praktisch dunkel, Blitze zuckten durch den schwarzen Himmel. Es roch nach See, Wiese, Ozon, aufgeweichter Erde. Was machte ich da in Mecklenburg in einem renovierten Herrenhaus? Ich gehörte überhaupt nicht dahin. Hier wurden Millionen verschoben.
    Wohin hatte man die Manetti-Leser geschickt? Nach Polen? Oder

Weitere Kostenlose Bücher