P.M. Manetti lesen oder Vom Guten Leben
und Madrid. Das war in Ordnung.
Ich setzte mich wieder ins Café am Markt, wo ich mit Susanne gewesen war. Eigentlich wirkte alles ganz gemütlich und proper: eine Kleinstadt, in der man seinen Lebensabend verbringen konnte. Aber nach einer gewissen Zeit spürte ich lähmende Langeweile. Das war ein Ort, aus dem man flüchtete. Die Welt war hier nicht zu Hause. Dabei finden überall etwa die gleichen Dinge statt, wenn man metropolitane Mythen abzieht. Was fehlte, war eine lebendige Verbindung zur Aktualität, connectedness. Man ging hier nach Berlin. Was ist schon Berlin? Oder Paris? Auch in New York muss man abwaschen und Windeln wechseln. Und dann gibt’s noch ein bisschen Kunst und Kultur, Events, zu denen man nie hingeht. Wenn sie aber nicht stattfinden, na dann … ist die Magie weg. Dabeisein, ohne hinzugehen. In Güstrow war man bei nichts dabei. Aber es war nett. Mindestens tagsüber.
21.
Abends gegen acht Uhr war ich in Paris. Ich beschloss, einen Zwischenhalt einzulegen. Ich bezog ein günstiges Zimmer in einem Zweisternehotel bei der Gare de l’Est und nahm dann sofort die Metro zur Place St. Michel. Das
Au Bon Couscous
in der Rue Xavier Privas gab’s immer noch, also kehrte ich dort ein. Es war ein ziemliches Gedränge im Lokal, und ich musste den Tisch mit einem amerikanischen Paar teilen. Sie waren sehr nett, pensionierte Akademiker, die in den siebziger Jahren in Paris studiert hatten. Sie wohnten in einem gemieteten Apartment gleich um die Ecke.
»Früher gab’s gegenüber noch
Au Meilleur Couscous
«, sagte Sally an einem gewissen Punkt der Unterhaltung.
»Wir gingen damals abwechselnd in beide«, fuhr David fort, »sie waren genau gleich gut – oder schlecht.«
»Das Essen ist okay hier«, bemerkte ich nach einigen Gabeln voll.
»Besser als früher«, meinte Sally.
»Dann isst man eigentlich jetzt ein meilleur Couscous im Bon Couscous«, schloss ich haarscharf.
»Und sie bewegt sich doch«, bestätigte Sally.
Wir tranken den gleichen algerischen Roten aus den grässlichen bräunlich-gelben Keramik-
pichets
. Auch er schmeckte besser als damals.
»1975?«, fragte ich.
»1972 bis 1973«, sagten sie.
»Alles gutgegangen?«
Sie lächelten mich müde an.
»Du weißt ja, was passiert ist«, seufzte Sally.
»Es gibt uns noch«, sagte David grinsend.
Es schien, dass die letzten vierzig Jahre wie eine Krankheit waren, die man einigermaßen gut überstanden hatte.
»Und sonst?«
David tunkte ein Stück Lamm ins Harissa.
»New normal. Wir müssen unseren Kindern und Enkeln beibringen, dass es ihnen nicht mehr so gutgehen wird wieuns. Zum ersten Mal, seit Nordamerika besiedelt wurde, wird es einer Generation schlechter gehen als der vorherigen.«
»Wir müssen die letzten vierzig Jahre als eine gute Zeit verstehen«, meinte Sally bitter.
War es eine gute Zeit gewesen? Im Vergleich zu dem, was mir mein Vater über die dreißiger Jahre und die Kriegszeit erzählt hatte, wohl schon. Ja, es war eine gute Zeit gewesen. Aber nur, wenn man die Nerven behielt. Und nur im Nordwesten.
»Schlechter gehen in welcher Hinsicht?«, bohrte ich nach. Sie hatten offensichtlich Harald Welzer oder seine amerikanische Entsprechung nicht gelesen.
David zählte an seinen dicken Fingern auf: »Haus verloren, zu wenig Geld für eine College-Ausbildung, schlechte Gesundheitsversorgung, mehr und unsicherere Arbeit, weniger Geld, kleinere Renten, reduzierte öffentliche Dienstleistungen, kaputte Umwelt, Kriegsdienst …«
»Und dann noch die Schulden abbezahlen, die wir für all die Bankenrettungen gemacht haben«, fügte Sally hinzu.
»Zeit für ein Jubiläum!«, sagte ich.
Sie zwinkerten mir verschwörerisch zu.
Als wir das Couscous gegessen hatten, schlugen Sally und David vor, doch noch zum Jardin du Luxembourg hinaufzubummeln und zusammen einen Kaffee zu trinken. Wir kamen am Haus vorbei, wo sich früher einmal François Masperos Buchladen
Joie de Lire
befunden hatte. Mindestens drei trotzkistische, vier maoistische, fünf situatio-anarchistische Zeitungen lagen dort in ungeordneten Stapeln auf. Aber nur bis 1974, dann versank der Mai 68 endgültig in einem allgemeinen Geschwafel – und in den Banalitäten des Programme Commun.
»Maspero«, seufzte auch David. Jetzt gab es nur noch Filialen von Gibert Jeune.
»Am schlimmsten waren die Lambertisten«, murmelte Sally, als wir den Boulevard St. Germain überquerten.
»Es gibt sie immer noch«, sagte ich, »Arlette Laguiller kandidiert noch alle
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