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P.M. Manetti lesen oder Vom Guten Leben

P.M. Manetti lesen oder Vom Guten Leben

Titel: P.M. Manetti lesen oder Vom Guten Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
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sieben Jahre.«
    »Ich weiß, ich weiß. Sie wird uns alle überleben. Sie wird noch in der Hölle kandidieren.«
    Es war ein lauer Abend, der Boul’ Mich’ voller Touristen und junger Leute, die Terrassen der Cafés gut besetzt. Sally sprach wieder von den vierzig verlorenen Jahren und der Welt, die wir unseren Enkeln und Nichten und Neffen nun hinterließen.
    »Sie werden uns hassen«, meinte sie.
    »Glaube ich kaum«, widersprach ich routiniert, »sonst müssten alle Generationen ihre Vorgängergenerationen hassen – zu viel Hass. Unsere Eltern haben schließlich die Konsumgesellschaft zugelassen, die dann endgültig zum Raubbau am Planeten führte. Und ihre Eltern haben weder Faschismus noch Stalinismus verhindert. Deren Eltern profitierten vom Imperialismus, und deren Eltern von Sklaven und Kolonien. Die ganze westliche Zivilisation ist ein großes Verbrechen. Und wir die Profiteure, seit vierhundert Jahren.«
    David seufzte. »Du hast ja recht, aber wir sind noch zwanzig Jahre da. Wir sind die, die man direkt hassen kann.«
    »Sie werden uns vergeben, genauso wie wir unseren Eltern vergeben haben«, sagte ich.
    Schon wollte ich hinzufügen, dass wir uns wegen läppischer vierzig verlorener Jahre keine Sorgen zu machen brauchten, aber ich wollte nicht aus der Rolle fallen. Voreiliger Trost kann dem Leben die Würze nehmen.
    »Du nimmst das nicht wirklich ernst«, beklagte sich Sally. »Ich bin auf dem Weg nach Lissabon«, antwortete ich.
    »Da waren wir noch vor zwei Wochen«, berichtete David, »ich kann dir die Adresse einer hübschen kleinen Wohnung in der Alfama geben.«
    »Es war so schön dort«, sagte Sally, »vor allem das Essen in den Tascas. Es gibt auch ein paar tolle Fado-Lokale. Alles wunderbar traurig.«
    »Ich mag
bacalhau
mit Rahmsauce überbacken«, erwähnte David.
    »In zwei Wochen geht’s weiter nach Prag«, sagte Sally, als wir links das beleuchtete Pantheon erblickten.
    »Und dann?«, fragte ich.
    Sie antworteten im Chor: »Istanbul.«
    »Dann noch drei Wochen griechische Inseln«, ergänzte David, »bis die Herbststürme beginnen.«
    »Das kann ziemlich ruppig werden«, warnte ich sie.
    Wir setzten uns an einen frei werdenden Tisch des
Le Luxembourg
, mit Blick auf die Gitter des Parks.
    »Ja, die Herbststürme«, seufzte David und fuhr sich mit der Hand über eine kürzlich geheilte Schulter.
    Wir bestellten Café mit Cognac.
    Ich war inzwischen am Überlegen. Hatten nicht die Manettis eine Wohnung in Paris? Da Sally gerade an ihrem iPhone herummachte, bat ich sie, eine Such-App für Adressen in Paris zu aktivieren und nach einer Elsa Manetti zu suchen. Sie wohnte in der Nähe der Place des Vosges, im Marais, kaum weiter als einen halben Kilometer vom Centre Suisse entfernt.
    »Elsa ist eine alte Bekannte von mir«, log ich, »sie ist mir erst jetzt eingefallen. Vielleicht besuche ich sie.«
    »Du kannst sie anrufen«, sagte Sally und hielt mir ihr iPhone hin.
    Das tat ich, aber es meldete sich nur der Beantworter.
    »An einem solchen Abend …«, versetzte Sally lächelnd.
    »Ich probier’s morgen wieder.« Ich notierte mir Adresse und Telefonnummer.
    »Morgen fahren wir nach Chartres und schauen uns die Kathedrale an«, sagte David.
    »In der Kathedrale haben wir uns damals verlobt«, verriet Sally und blickte David zärtlich an.
    »Ein guter Ort«, lobte ich sie.
    »Ja, so vergisst man’s nicht«, meinte David grinsend.
    Etwas Zeit verging.
    »Wir sollten alle verschwinden«, erklärte Sally, als wir unsere
cafés Cognac
bekommen hatten.
    »Vielleicht sind wir schon verschwunden«, sinnierte ich, »ich meine: Wissen eure Kinder und Freunde, wo ihr seid?« »Die haben keine Ahnung«, erwiderte Sally mit einem fröhlichen Unterton in der Stimme, »sie meinen, wir seien auf Cape Cod bei Freunden.«
    Sie lachten beide.
    »Und du?«, fragte mich Sally.
    »Ich bin auch weg.«
    »Verschwundene treffen sich traditionell in Paris«, bemerkte David grinsend.
    Wir stellten fest, dass viele der jungen Passanten aus arabischen oder afrikanischen Ländern stammten. Paris war eindeutig ein Fluchtpunkt. Warum eigentlich?
    Vielleicht hatten wir es da mit einem dieser globalen Sogphänomene zu tun. Irgendwo musste »es« ja stattfinden. Und das war hier, nicht in Güstrow. Nicht in Brazzaville oder Ouazarzate. Sogwirbel wie Paris waren jene Linsen, durch die man die Ewigkeit betrachten konnte. Das hatte schon Baudelaire beschrieben, als er als Vampir in der Masse der armen Seelen badete. Denn was

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