P.M. Manetti lesen oder Vom Guten Leben
hoch.
Cora Mink empfing mich.
»Ach, der unvermeidliche Herr Lehmann«, rief sie aus, als sie mir die Wohnungstür aufmachte.
»Meier.«
»Ja, ja.«
Cora Mink entsprach der Beschreibung: um die vierzig, elegantund gerissen. Sie hatte eine spitze Nase, fast asiatische Augen, einen grellrot geschminkten Mund und trug etwas grünlich Schillerndes aus Seide. Sie hatte einen ungeordneten schwarzen Haarschopf. Dazu war sie barfuß.
»Ich war gerade beim Frühstück, mögen Sie auch etwas?«
»Wenn es Leberwurst gibt.«
»
Pâté de Campagne
.«
»Auch gut.«
Ich betrat einen hellen Salon. Ein Tisch war mit einem viel zu großen Leintuch bedeckt, auf dem ein deutsches Frühstück mit diversen Würsten, Käsescheiben und dunklem Brot ausgebreitet war.
»Ah, Schwarzbrot«, stellte ich fest.
»Gibt es alles um die Ecke bei den jüdischen Bäckereien. Langen Sie zu.«
Die Fenster des Salons waren zum Park hin geöffnet, und Sonnenlicht strömte herein. Antike Möbel und Spiegel in vergoldeten Rahmen gaben dem Raum einen luxuriösen Charakter.
»Ich suchte eigentlich Elsa Manetti«, sagte ich, als ich mich setzte.
»Weiß ich schon. Sie ist gestern abgereist. Wohin, sage ich nicht.«
»London? New York? Lissabon?«
Sie grinste mich nur an und legte eine Käsescheibe auf das grässliche Schwarzbrot.
»Ich nehme an, auch diese Wohnung hier wird nun verkauft«, sondierte ich.
»Diese Wohnung? Sind Sie verrückt! Niemand verkauft eine Wohnung an der Place des Vosges. Elsa hat allerdings ein Landgut in der Normandie verkauft, weil wir es nicht mehr brauchen.«
»Es werden keine Verschwundenen mehr durchgeschleust.« »Genau. Niemand verschwindet mehr. Die Aktion ist abgeschlossen. Sie kommen zu spät.«
»Aber Sie bleiben hier?«
»Ja, mir gefällt es hier.«
»Das sieht man.«
Sie lachte mich aus. Erst jetzt bemerkte ich, dass der Frühstückstisch für zwei Personen gedeckt war.
»Ich heiße übrigens Cora.«
»Paul. Du hast mich erwartet.«
»Ja, klar. Ich sagte ja: unvermeidlich. Es war ziemlich logisch, dass du hier aufkreuzen würdest. Aber du solltest definitiv nach Hause zurückkehren. Das ist eine hoffnungslose Mission.«
»Ich habe Versprechungen abgegeben.«
»Wie du willst.«
Ich trank etwas Kaffee. Sie zeigte mir einen Artikel in der
Libération
, den ich noch nicht gelesen hatte. Er handelte von einem Film über den Machismo in den
banlieues
, der zensiert worden war.
»Da kommt noch einiges auf uns zu«, meinte sie.
»Und warum bist du dann nicht auch verschwunden?«
»Die Place des Vosges – hast du sie dir angesehen?«
»Klar, ich kenne sie schon seit langem. Ich habe damals auf dem Rasen meine altfranzösische Grammatik studiert.«
»Altfranzösische Grammatik?«
»Ja, li mur, le mur, li murs, les murs. Zwei Casus.«
Sie machte große Augen.
»Ich dachte, du wolltest mich prüfen«, sagte ich.
»Unsinn. Also, was siehst du, wenn du die Place des Vosges anschaust?«
»Ein großes Geviert, Rasen und Bäume in der Mitte, teure Boutiquen und Restaurants rundherum unter den Arkaden, den Espace Victor Hugo, Antiquitätengeschäfte, städtische Büros. Es war ursprünglich einmal ein Königspalast. Damals war hier noch ein Sumpf. Heute wohnen hier nur Superreiche.«
»Alles richtig. Und?«
»Es ist schön ruhig hier. In Fußdistanz befinden sich Bäckereien, Wäschereien, eine Buchhandlung, Traiteure, Laiterien. Bofinger ist nicht weit, die Opéra an der Bastille …«
Sie nickte zufrieden und fuhr fort: »Etwa 630 Leute wohnen hier und in ein paar Nebenstraßen. Darunter noch einige Barone. Was stellst du dir unter einem Baron vor?«
»Einen ekligen Alten mit Monokel.«
Sie erhob einen korrigierenden Zeigefinger. »Es gibt auch junge, knackige Barone – und Baronessen. Und was weißt du sonst noch über Barone?«
»Ich nehme an, sie sind reich. Sie fahren Rolls Royce. Sie haben Landgüter …«
»Aha!«, rief sie aus.
Ich verstand nicht, worauf sie hinauswollte.
Sie stand auf und holte ein Buch. »Das ist Michel Houellebecqs neuster Roman, gerade herausgekommen. Kennst du ihn?«
»Ich habe davon gehört, ihn aber noch nicht gelesen.«
»Da steht alles drin.«
»Über die knackigen Barone und Baronessen?«
»Nein, über das, was wir hier an der Place des Vosges machen. Wir haben eine
Association des habitants
gegründet. Die meisten Bewohner sind dabei, außer natürlich die Tochter des Innenministers von Kasachstan. Die hat keine Ahnung, sie kommt hierher nur zum
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